Am Spiegelgrund

Dieser Artikel erschien in der Straßenzeitung Eibisch-Zuckerl.

Mahnmal für die Opfer vom Spiegelgrund in Wien
BIZEPS

„Sie quälen anstatt zu helfen, sie missbrauchen die jungen Menschen für qualvolle medizinische Versuche. Sie mischen Gift in ihr Essen. Sie lassen die Kinder verhungern, verdursten und erfrieren. Und oft beendet die Giftspritze deren geschändetes Leben“, schrieb Friedrich Zawrel, der durch die Gunst einer Krankenschwester der Anstalt entfliehen und so überleben konnte.

Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens

Dem Wahn einer arischen Herrenrasse wurde im Dritten Reich alles geopfert. Auch die „erbkranken Kinder“, selbst wenn eine Erbkrankheit auch nur vermutet wurde.

Und alles war bis ins Detail durchorganisiert. Im Oktober 1939 ermächtigte Hitler zur Tötung von „lebensunwertem Leben“. Die Zahl der in Frage kommenden Patienten wurde mit etwa 70.000 festgelegt. In Berlin wurde im April 1940 die Zentrale, der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ errichtet. Bereits im Oktober 1939 wurden alle Heil- und Pflegestellen, Kinderärzte und Hebammen per Runderlass verpflichtet, PatientInnen mit geistiger oder teilweise auch körperlicher Behinderung per Formular zu melden.

Die weitere Auswahl anhand dieser Meldebögen erfolgte in der Zentrale durch drei Gutachter. Ein „+“ kam dem Todesurteil gleich. Der zuständige Amtsarzt hatte dann die Eltern zu verständigen und für die Einweisung in die bezeichnete Anstalt zu sorgen. Den Eltern wurde dabei eine besondere Behandlung zur Besserung der Krankheit ihres Kindes vorgespiegelt.

Kinder-„Euthanasie“

Sie war Teil der Vernichtung „unwerten“ Lebens, der „Aktion T4“ (benannt nach der Adresse des Reichsausschusses, Tiergartenstraße 4). Für die „Behandlung“ der gemeldeten Kinder gab es im Reich etwa 30 „Kinderfachabteilungen“. Davon in Österreich Klagenfurt, Graz (Am Feldhof) und Wien (Am Spiegelgrund). Nach heutigem Wissensstand wurden in dieser Aktion insgesamt etwa 6.000 Kinder und Jugendliche ermordet.

Minderjährige, sogar Säuglinge kamen jedoch auch mit Erwachsenentransporten in Tötungsanstalten, wo sie ebenfalls vergast wurden. Teilweise wurden sie auch in Konzentrationslager deportiert (vor allem „Zigeunerkinder“) und starben dort. Vereinzelt wurden sie auch in den Heilanstalten selbst ermordet. Neuere Recherchen haben fast 1.500 minderjährige Opfer in Österreich ergeben, die außerhalb der Kinderfachabteilungen so ermordet wurden.

Am Spiegelgrund

Die 1940 eingerichtete Anstalt war die zweitgrößte Kinderfachabteilung des Deutschen Reiches. Eine der Bezeichnungen „Heilpädagogische Klinik der Stadt Wien – Am Spiegelgrund“ klingt wie eine Verhöhnung der Opfer. Untergebracht war die Abteilung in den Pavillions 15 und 17 der Anstalt „Am Steinhof“ auf der Baumgartner Höhe in Wien (heute Otto Wagner-Spital).

Juli 1940 bis Jänner 1942 war der SS-Arzt Dr. Erwin Jekelius Leiter der Kinderfachabteilung, sein Nachfolger war Dr. Ernst Illing. Als Spezialist für die Tötung der Kinder wurde von Berlin Dr. Heinrich Gross beigestellt. Diese „Herren“ waren besonders eifrig am Werk – Am Spiegelgrund hatte Vorbildcharakter für alle Reichsgaue der damaligen Ostmark und des Altreichs.

Details geben Auszüge aus Verhörprotokollen des Prozesses gegen Dr. Erwin Jekelius in Moskau, bei dem er 1948 zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurde:

„… Man stellte Listen über die betreffenden Kinder zusammen und schickte sie mir zur unmittelbaren Ausführung. Ich wiederum habe die Listen an Dr. Gross übergeben, der dann die Tötung der Kinder mittels Verabreichung von Luminal vornahm …

… Die Methodik zur Tötung von Kindern … war vom Direktor der ‚Herden‘-Klinik für Geisteskranke in der Provinz Brandenburg, Heinze, erarbeitet worden. Vor seiner Ankunft in Wien hatte mein Gehilfe Dr. Gross einen praktischen Lehrgang zur Tötung von Kindern bei dem genannten Heinze absolviert …

… Dr. Gross arbeitete in der Klink unter meiner Leitung. Die Tötung der Kinder nahm er auf Grundlage seiner Erfahrungen und Instruktionen vor …

… Die Tötung kranker Kinder wurde von uns unter strengster Geheimhaltung vorgenommen. Daher wussten die Eltern darüber nichts. Nach der Vergiftung eines Kindes durch Dr. Gross wurde den Eltern mitgeteilt, dass ihr Kind an dieser oder jener Krankheit gestorben sei, die er sich selbst ausdachte. …

… monatlich töteten wir zwischen 6 und 10 Kinder …“

Starke Unterernährung und ungeheizte Krankenzimmer erleichterten die Tötung und gaben eher den Anschein eines natürlichen Todes – und sparten Geld!

Die pensionierte Mittelschulprofessorin Waltraud Häupl musste erfahren, dass eines der Opfer ihre jüngere Schwester war. Sie begann zu recherchieren und stellte die Opferdokumentation „Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund“ zusammen, die 2006 als Buch erschien. Darin sind 788 Opfer dokumentiert.

Medizinische Forschung

An den Patienten wurden klinische Versuche und diagnostische Experimente durchgeführt. Encephalografie war eine häufig angewandte Untersuchungsmethode (Röntgenaufnahme nach Füllen des Raumes zwischen Schädel und Gehirn mit Luft). Auch Tbc-Versuchsreihen mit Impfstoffen wurden an den Kindern ausgeführt. Nach dem Tod wurden die Gehirne und Nervenstränge für Präparate entnommen, an denen anatomische Forschung betrieben wurde.

Mehrere wissenschaftliche Artikel von Gross in den 50er- und 60er-Jahren basierten auf diesem Material. Die Bestattung der Überreste dieser Präparate erfolgte erst 2002 am Zentralfriedhof. Im selben Jahr wurde auch eine Ausstellung über Kinder-Euthanasie und die Vorgänge Am Spiegelgrund im obersten Pavillion der Anstalt eingerichtet. Für jedes Opfer leuchtet in der Dämmerung eine Lichtstele vor dem dortigen Jugendstiltheater.

Strafrechtliche Ahndung

Jekelius wurde 1942 als Leiter abgezogen und an die Front versetzt. 1945 wurde er als Kriegsverbrecher gesucht, in Wien durch die Sowjets verhaftet und in Moskau der Prozess gemacht. 1948 Verurteilung auch wegen weiterer Delikte zu 25 Jahren Gefängnis. 1952 im russischen Gefängnis an Blasenkrebs gestorben.

Illing gibt in einer ersten Einvernahme nach Kriegsende u.a. zu Protokoll: „… man hat die Kinder sterben lassen, die überhaupt keinen Nutzen für das deutsche Volk hatten … es wurde zwar von einer Behandlung gesprochen, dass diese Behandlung eigentlich Todesbeschleunigung bedeutete, darüber war ich noch von Prof. Heinze in Brandenburg belehrt worden …“. Im Juli 1946 wurde Illing vor dem Volksgericht Wien der Prozess gemacht, erhielt die Todesstrafe und wurde im November 1946 gehenkt.

In einem ersten Gerichtsverfahren 1950 wurde Gross mit Hilfe eines juridischen Tricks nur wegen Beteiligung am Totschlag von Kindern angeklagt und dafür zu 2 Jahren Haft verurteilt. 1951 wurde das Urteil vom Obergericht aufgehoben und das Verfahren in der Folge eingestellt. Gross konnte seine Forschungen an den noch vorhandenen Präparaten fortsetzen und erhielt dafür hohe Auszeichnungen.

1979 kam der Fall wieder an die Öffentlichkeit. Der Unfallchirurg Werner Vogt beschuldigte Gross öffentlich der Beteiligung an der Kinder-„Euthanasie“, worauf Gross ihn wegen Verleumdung klagte. Vogt wurde freigesprochen, da er den Wahrheitsbeweis für seine Äußerungen erbringen konnte. Ein neuerliches Gerichtsverfahren verzögerte sich aber. 1981 konnte Gross seinen Ruhestand als Arzt des psychiatrischen Krankenhauses antreten. Trotz dieser erwiesenen Verwicklung in schwerste Verbrechen machte die Gerichtsbarkeit Gross zum hochbezahlten und meistbestellten Gerichtsgutachter der Zweiten Republik.

Im März 2000 wurde ein Gerichtsverfahren eingeleitet, das Verfahren jedoch wegen fortschreitender Hirndemenz von Gross vertagt und nie wieder aufgenommen. Unmittelbar nach der Verhandlung geführte Interviews ließen von der Demenz aber wenig erkennen. Im Jänner 2008 gelangten die Vernehmungsprotokolle von Jekelius aus Moskau nach Österreich, die Gross schwer belasteten. Die Staatsanwaltschaft wurde nicht mehr aktiv. Gross verstarb Ende 2008. Bei der Strafverfolgung war Gross – wie viele andere NS-Mediziner auch – durch die Maschen der Justiz geschlüpft.

In der Dokumentation von Waltraud Häupl finden sich auch drei Kinder, die in Wiener Neustadt gewohnt haben und in der Anstalt „Am Spiegelgrund“ grausam ermordet wurden.

Ich bin fast jede Woche einmal in der Waldschule in Wiener Neustadt. Oft sprechen mich Kinder von dort an, weil der Partnerhund meiner Tochter, mit dem ich eine Runde gehe, immer ein Anziehungspunkt ist. Dann plaudern wir ein wenig. Letzte Zeit ertappe ich mich öfters bei dem Gedanken: hätte dieses Kind im Dritten Reich eine Chance gehabt?

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5 Kommentare

  • Für eure Forschung. Ich lebte dort.

    Im Landessonderkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Graz Wagner Jauregg platz 1 Schulabteilung D3 Feldhof in den 70er Jahren wurden die behinderten Kinder die von Stuhl gefallen sind am Stuhl festgebunden wegen dem Mittag schlaf man musste die köpfe am Tisch legen und bei manchen behinderten war dies fast unmöglich. Ich half mal einen Behinderten so das er nicht von Stuhl flog darauf hin wurde ich mit ein Kabelschlauch geschlagen und am Stuhl fest gebunden. Medikamentenmissbrauch Akineton, Sordinol, Melleretten, damit das Kind gleich noch mehr Schäden davon trägt Oder sie wurden nieder gespritzt Zwangs jage ohne jeglichen Grund Spezial Gitterbett Haufen Medikamenten Test an schwerst behinderte Kinder. Sexuellen Missbrauch. Kleine teile unseres Lebens. Wer Interesse hat dies Nach zu gehen, schreibt mir eine E-Mail.

    Landessonderkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Graz Wagner Jauregg platz 1 Felthof Schulabteilung D3 Misshandlungen, Sexuellen Missbrauch

    Mfg

  • @Charlotte: Zur Beantwortung deiner Frage: E i n Grund war vermutlich darin gelegen, dass Dr. Gross seine Gutachten noch in derselben Strafverhandlung ergänzt haben soll und das dem Gericht Zeit gespart hat.

  • @Klaudia Karoliny

    „Die Methoden uns zu „foltern“ waren zugegebener Maßen nicht mehr so massiv und zu Tode gekommen ist von uns Kindern wohl auch niemand mehr. Ich fürchtete um mein Leben dort.“

    Ich glaube, es gibt Schranken, die, überschritten, einen Menschen einen anderen Menschen nicht mehr als „richtig, vollwertig, personalen“ Menschen ansieht. Da wird alles möglich. Menschen sind für solche Blindheiten anfällig. Vor allem an Orten, wo Menschen ihrer Freiheit entzogen sind und in politischen Systemen, die solche Freiheitsentzüge ungeordnet zulassen (Lesenswert: „Lauter pflichtbewußte Leute. Szenen aus NS- Prozessen“- Ulrich Renz; bei amazon oder unter eurobuch.com)

  • Danke für die Ausführung dieses Berichtes. Ich wusste viele Details nicht. Wie ist es möglich, dass Dr. Gross so derartig geschützt weiterleben konnte?? Österreich war und ist kein Rechtsstaat! In vielen Köpfen ist dieses Denken von damals noch immer vorhanden! Ein bißchen weiß ich aber, was heutige Gutachter auszeichnet! Eine Schande für unser Land!

  • Ich war selbst auch in den früheren 70er Jahren „Insassin“ der Waldschule – vielleicht berührt und schockiert mich dieser Beitrag deswegen so sehr, dass es mich schüttelt vor Grauen. Wir hatten damals bestimmt noch „Entkommene“ aus der NS-Zeit als Erzieherinnen. Es war mir schrecklich dort! Die Methoden uns zu „foltern“ waren zugegebener Maßen nicht mehr so massiv und zu Tode gekommen ist von uns Kindern wohl auch niemand mehr. Ich fürchtete um mein Leben dort.

    Es hat sich in der Zwischenzeit hoffentlich viel geändert. Vor allem liegt es ja am Personal.