Ich bin contra Sonderschule für gehörlose Kinder in Österreich

Von einem Bildungsprogramm darf allgemein erwartet werden, dass alle oder zumindest ein Großteil aller gehörlosen bzw. gebärdensprachigen Schulkinder die allgemeinen und spezifischen Bildungsziele uneingeschränkt erreichen können. Ein Kommentar.

Gebärde für Diskriminierung
Österreichischer Gehörlosenbund

Ich bin CONTRA Sonderschule für gehörlose Kinder, weil … ich in der Trennung nach Lautsprache und Gebärdensprache ein Instrument der sozialen Segregation und das Gegenteil der Inklusiven Bildung sehe.

Ich bin contra Sonderschule für gehörlose Kinder in Österreich. Von einem Bildungsprogramm darf allgemein erwartet werden, dass alle oder zumindest ein Großteil aller gehörlosen bzw. gebärdensprachigen Schulkinder die allgemeinen und spezifischen Bildungsziele uneingeschränkt erreichen können. Seit September 2005 ist die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) als eigenständige Sprache in der Bundesverfassung anerkannt.

Man hätte vom Bildungsministerium erwarten können, dass entsprechende Maßnahmen zur Umsetzung der Sprachenrechte gehörloser bzw. gebärdensprachiger Schulkinder in den Bildungsprogrammen gesetzt werden. Doch im Bildungsalltag hat sich die schlechte Situation gehörloser bzw. gebärdensprachiger Schulkinder leider nicht wesentlich geändert.

Das Bundes-Gehörloseninstitut in der Maygasse in Wien-Hietzing, dem in dieser Hinsicht die Hauptrolle zukommt, kann dieser hohen Erwartung nicht ganz gerecht werden. Hier gehe ich auf Klassen mit gehörlosen und hörbehinderten Kinder im Grund-, Haupt- und Sonderschulbereich ein, die sich entweder im Gehörlosen-Bildungsinstitut oder in angeschlossenen kooperativen Mittelschulen oder in der AHS befinden, getrennt nach Integrationsklassen (wo hochgradig hörbehinderte Kinder zusammen mit hörenden Kindern im hör- und lautsprachlich orientierten Unterricht zusammen gefasst werden) oder reine Gehörlosenklassen (also kleine Klassen, wo nur gehörlose Kinder in Gebärdensprache unterrichtet werden, wobei jedes Kind individuell gefördert wird, entweder nach dem Sonderschullehrplan, Volks- oder Hauptschullehrplan, etc.).

Wie aus dem Interview von „Die Presse“ mit Direktorin Frau Strohmayer aus dem Jahr 2009 zu entnehmen ist, ist im Gehörlosen-Bundesinstitut seit 2001 die „freie Methodenwahl“ zugelassen. Die Eltern können nach „ausführlicher Beratung“ (ob hier von seiten Bildungsinstitut neutral und unvoreingenommen vorgegangen wird, ist eine andere Frage, wie wir weiter sehen werden) für ihre Kinder entscheiden, welchen Unterricht – lautsprachlich bzw. hörgerichtet oder gebärdensprachlich – sie bevorzugen würden. Frau Strohmayer hielt im Interview fest, dass die überwiegende Mehrheit der Eltern will, dass ihre Kinder hörten und zwar mit Hilfe eines Cochlea-Implantats.

In meinem Beitrag versuche ich einige für die Außenwelt wenig bekannte Aspekte darzulegen, warum und auf welche Weise die auditiv-verbale Methode (hör- und lautsprachgerichteter Unterricht) gegenüber der Gebärdensprache (laut Bildungsinstitut; sollte eher richtig heißen: bilinguale Methode d.h. ÖGS und Deutsch als zwei gleichberechtigte Unterrichtssprachen) im Gehörlosen-Bildungsinstitut so stark im Vordergrund steht.

Für meine Meinung sind folgende Fälle ausschlaggebend, die mir zugetragen wurden…

Fall 1:

Im Bildungsinstitut werden gehörlose Kinder, die nur gebärdensprachlich unterrichtet werden, in Kleinklassen, auch Gehörlosenklassen genannt, eingeteilt. Dort arbeiten auch nur hörende und/oder gehörlose Lehrkräfte mit Gebärdensprache. Jedes gehörlose Kind innerhalb der Klassen wird individuell betreut: abhängig von individuellen Fähigkeiten der Kinder nach unterschiedlichen Lehrplänen der Volksschule, Hauptschule oder Sonderschule. Für gehörlose bzw. gebärdensprach-orientierte Kinder gibt es im Bildungsinstitut keine entsprechenden Lehrpläne nach Sekundarstufe II (ab Schulstufe 9). Dieses Privileg wird nur hör- und lautsprachlich orientierten Kindern zugestanden, die in die Integrationsklassen gehen.

Fast immer erhalten gehörlose Kinder wenige Hausübungen pro Woche, sie werden wenig gefordert. Einige gehörlose Eltern, die selbst damals als Kinder nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet wurden, lassen ihre gehörlosen Kinder dort nicht unterrichten. Sie wollen es ihren Kindern ersparen und schicken sie lieber stattdessen in andere Schulen.

Fall 2:

Wie zuvor erwähnt, werden in Integrationsklassen im Gehörlosen-Bildungsinstitut hochgradig hörbehinderte Schulkinder, die vorzugsweise mit CI versorgt sein müssen, gemeinsam mit hörenden Kindern unterrichtet. Mir wurde mehrmals berichtet, dass gehörlose oder hörbehinderte Kinder ohne CI keine Chance hätten, in eine dieser Integrationsklassen zu gehen. In diesen Klassen steht der hör- und lautsprachgerichtete Unterricht im Vordergrund.

Die Gebärdensprache wird vom Unterrichtsgeschehen verbannt, ja die hörbehinderten Kinder sollen untereinander möglichst nicht gebärden. Offensichtlich geschieht dies nach „ausführlicher Beratung“ auf Wunsch der Eltern und unter entsprechender Aufsicht der Lehrerinnen und Lehrer. Kinder in Integrationsklassen genießen Vorteile gegenüber Kindern in Gehörlosenklassen: ihnen stehen wegen der Regelschullehrpläne (Primarstufe, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II) bessere Bildungschancen offen.

Nun ist folgende Begebenheit sehr bemerkenswert, welche mir zugetragen wurde: einige der hörbehinderten Kindern werden zusammen mit anderen Kindern, darunter auch gehörlose Kinder, während der Nachmittagszeit im Hort (welcher am Bundesinstitut angeschlossen ist) von hörenden Erzieherinnen und Erziehern betreut. Ihre Aufgabe ist es unter anderem, gehörlosen und hörbehinderten Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.

Im Laufe der Zeit stellten einige von den Horterzieherinnen und -erziehern fest, wie viele gehörlose Kinder Probleme beim Erfassen des Inhaltes und Lösen ihrer Hausaufgaben haben, insbesondere in den Fächern Deutsch und Mathematik. Die Erzieherinnen und Erzieher zogen daraus Konsequenzen und gehen sogar in Gebärdensprachkurse auf eigene Rechnung. Es gibt da von Seiten Bildungsministerium keine finanzielle Förderung. Sie bemühen sich, gehörlosen Kindern die Aufgaben in Gebärdensprache zu erklären. Sehr lobenswert!

Aber es kann doch nicht sein, dass Erzieherinnen und Erzieher die Lehrerfunktion quasi übernehmen, während die im Bundesinstitut fest angestellten Lehrerinnen und Lehrer daran scheitern, ihren Schulkindern die Unterrichtsinhalte in ÖGS zu vermitteln. Der Grund dürfte darin liegen, dass die verantwortlichen Lehrkräfte keine oder zu niedrige Sprachkompetenz in ÖGS aufweisen.

Und hier fängt das „Problem“ an: hörbehinderte Kinder aus den Integrationsklassen werden im Hort zusammen mit gehörlosen Kindern aus den Gehörlosenklassen betreut. Wenn eine Erzieherin oder ein Erzieher mit gehörlosen Kindern gebärdet (um bei Hausaufgaben zu helfen), ist es unvermeidlich, dass die anwesenden hörbehinderten Kinder beim Anblick der „fliegenden Hände“ von der Erzieherin oder vom Erzieher wissen wollten, wie man Wörter gebärdet. Also zeigte man ihnen einige Gebärden. Die hörbehinderten Kinder waren von der Schönheit der Gebärdensprache offensichtlich so begeistert, wie es andere Kinder auf natürliche Weise auch sein können.

Wie aus dem Nichts fingen hörbehinderte Kinder in der Integrationsklasse an, sich untereinander mit ihren ersten Gebärden auszutauschen. Eine Lehrerin erwischte sie in flagranti und verständigte die Frau Direktorin über diesen „Vorfall“, als ob Gefahr im Verzug sei. Die Direktorin hatte die Horterzieherinnen und -erzieher angewiesen, mit hörbehinderten Kinder aus den Integrationsklassen unter keinen Umständen zu gebärden. Sie sieht es auch nicht gerne, dass immer mehr Horterzieherinnen und -erzieher Gebärdensprachkurse besuchen.

Warum wird die Gebärdensprache in den Integrationsklassen so angefeindet? Ganz offensichtlich will die Schulleitung sich gegen die Ausweitung der Gebärdensprache im ganzen Institut stemmen. Damit wird auch das Vorurteil gestärkt, dass die Gebärdensprache den Erwerb der Lautsprache behindern würde. Für diese weit verbreitete Behauptung gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg! Im Gegenteil, die Wissenschaft bescheinigt der Gebärdensprache fördernde Effekte für den Erwerb von weiteren Sprachen, sei es gesprochen, geschrieben oder gebärdet.

Die räumliche und physische Trennung zwischen den Personen nach Lautsprache oder Gebärdensprache beginnt bereits im Kindergarten im Gehörlosen-Bildungsinstitut. Auch da wird peinlich darauf geachtet, dass hörbehinderte Kinder mit CI nicht in Kontakt mit gehörlosen bzw. gebärdenden Kindern treten.

Ich sehe in der Aufteilung und Trennung nach Lautsprache und Gebärdensprache im Bildungsinstitut ein Instrument der sozialen Segregation (Fremdbestimmung von oben) und das Gegenteil der Inklusiven Bildung. Da hat wohl niemand an das böse Wort „Apartheid“ gedacht. Ja, das hat sich eigentlich auf die Hautfarbe bezogen, aber da kann man doch ins Nachdenken kommen, oder?

Fall 3:

Im Gehörlosen-Bildungsinstitut ist eine hörende Schulpsychologin beschäftigt. Man könnte meinen, dass die Psychologin die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) beherrscht. Denn sie sollte für gehörlose und gebärdensprachige Schulkinder direkt erreichbar sein, wenn sie benötigt wird. Mir wurde dennoch folgender Fall berichtet: eine gehörlose Schülerin ist beim Gehörlosen-Bildungsinstitut angemeldet und geht gemeinsam mit vier weiteren gehörlosen Kindern in eine integrative Klasse (AHS-Unterstufe) in einem Bundesgymnasium. Sie benötigte aufgrund der Schwierigkeiten im Unterricht eine psychologische Betreuung. Ihre gehörlose Mutter kontaktierte die Psychologin vom Bundesinstitut und stellte beim direkten Gespräch fest, dass die Psychologin die ÖGS nicht beherrscht und daher mit ihrer gehörlosen Tochter nicht kommunizieren kann. Sie musste daher stattdessen auf eine andere Psychologin ausweichen, die zum Glück die ÖGS beherrscht. Sie musste für die psychologische Betreuung ihrer Tochter aus eigener Tasche bezahlen. Im Falle der Psychologin vom Bildungsinstitut hätte es nichts gekostet, weil die Schülerin ja dort angemeldet ist.

Das gleiche Problem trifft sowohl bei Junglehrerinnen bzw. -lehrern als auch bei Therapeutinnen bzw. Therapeuten, Zivildienerinnen bzw. Zivildienern im Bildungsinstitut zu. Mir wurde von Fällen berichtet, dass sie im Beisein von gehörlosen Kindern nicht gebärden, sondern nur laut sprechen oder sich nicht trauen, vollständig zu gebärden. Gehörlose Kinder bekommen nicht mit, was über sie gesprochen wird, leiden unter Kommunikationsproblemen und werden so auf unmenschliche Weise diskriminiert.

Die gehörlose Mutter will diese Sache nicht auf sich beruhen und hat vor kurzem ein Schlichtungsverfahren nach dem BGStG mit dem Bildungsministerium bzw. mit dem Wiener Stadtschulrat eingereicht, weil keine Vorsorge getroffen wurde, dass die Schulpsychologin über die Sprachkompetenz in ÖGS verfügt.

Fall 4:

Mir sind einige Berichte bekannt, wo hörende Lehrkräfte – die im Gehörlosen-Bildungsinstitut fest angestellt sind und ebendort oder in kooperierenden Schulen arbeiten – aufgrund ihrer mangelnden Sprachkenntnissen in ÖGS überfordert sind und während des Unterrichts oder beim Gebärdensprachkurs (den sie eigentlich nicht geben dürften!) zwischendurch gehörlose Kinder im zarten Alter(!) fragen, wie ein oder mehrere Wörter gebärdet werden. Nicht selten kommt es vor, dass sie die elementaren Gebärden falsch ausführen.

Es handelt sich keineswegs um Einzelfälle. Das Bildungsministerium trägt durch seine jahrelange – wenn nicht jahrzehntelange – Untätigkeit bzw. Vernachlässigung die Hauptverantwortung.

Fall 5:

Was alle Kinder im Gehörlosen-Bildungsinstitut angeht, kommt es praktisch täglich vor, dass hörende Kinder aus den Integrationsklassen gehörlosen Kindern aus den Gehörlosenklassen begegnen. Sie können nicht miteinander kommunizieren, weil erstere über keine Gebärdensprachgrundkenntnisse verfügen. Gehörlose Kinder fühlen sich diskriminiert, da sie nicht verstehen, was hörende Kinder (über sie?) reden!

Es herrscht Alltags-Segregation im Bildungsinstitut: gehörlose Kinder und Lehrkräfte werden als minderwertig angesehen – Frau Direktorin Strohmayer ist der Ansicht, dass die Gebärdensprache „keine natürliche Sprache“ sei. Inklusion ist für sie ein Fremdwort.

Meine Vision für die Bildung von gehörlosen Kindern in der Zukunft…

1. Vision: Neu oder bisher fest angestellte Lehrerinnen und Lehrer des Bildungsinstituts erhalten vom Bildungsministerium die Verpflichtung, ein umfassendes Ausbildungsprogramm für ÖGS und Bilingualer Unterricht auf Bachelor und Master-Ebene abzulegen.

Derzeit ist es so, dass es Lehrerinnen und Lehrern – so sie mit gehörlosen Kindern arbeiten wollen – freisteht, einen ÖGS-Kurs im Ausmaß von ca. 70 Stunden ohne Prüfungsnachweis bezüglich Sprachkompetenz in ÖGS abzulegen. Ich bin überzeugt, dass es für gehörlose Schulkinder das Beste wäre, wenn Lehrkräfte einen ÖGS-Kurs mit Prüfungsnachweis ablegen, wobei darauf geachtet wird, dass sie die ÖGS-Kompetenzstufe mindestens B2 (bzw. C1 für Sekundarstufe II) erreichen. Im Prinzip muss der Ausbildungsplan für alle hörenden Lehrerinnen und Lehrer, die Fremdsprachen in Schulen unterrichten, im Sinne des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GERS) geändert und auf Bachelor bzw. Master-Ebene gehoben werden. Gehörlose Lehrerinnen und Lehrer sollen natürlich ebenso auf gleiche Weise auf Sprachkompetenz in ÖGS und Deutsch (schriftlich) geprüft werden.

2. Vision: Lehrpläne für Bilingualismus (ÖGS und Deutsch als gleichberechtigte Unterrichtssprachen) für Primarstufe, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II mit Möglichkeit, die Maturaprüfung zu absolvieren.

Vom Bildungsministerium existieren lediglich der „Lehrplan der Sonderschule für gehörlose Kinder“ und das „Curriculum und Prüfungsordnung für den Hochschullehrgang Hörgeschädigtenpädagogik“. Zur Anwendung des Bilingualismus im Unterricht sind sie nicht geeignet.

3. Vision: mehr gehörlose und gebärdensprachige Lehrerinnen und Lehrer im Bildungsinstitut. Sie erfüllen eine wichtige Vorbildfunktion für gehörlose Kinder.

4. Vision: Umsetzung der ICED-Resolution von Vancouver 2010 und der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Artikel 24)! Der Lehrplan der Sonderschule für gehörlose Kinder wird ersatzlos gestrichen. Keine räumliche und physische Trennung nach Lautsprache und Gebärdensprache im Gehörlosen-Bildungsinstitut mehr. Bilinguale Schule und somit Inklusive Schule für alle gehörlose, hörbehinderte und hörende Kinder! Es ist in Wien ein Kompetenzzentrum für Bilingualer Unterricht (Schwerpunkt ÖGS und Deutsch) mit Multiplikatorenfunktion für andere Inklusive Schulen in Österreich sind dringend notwendig.

5. Vision: Übernahme der Kosten für Gebärdensprachdolmetschung für gehörlose und hochgradig hörbehinderte Kinder ab Sekundarstufe II in Inklusiven Schulen österreichweit.

6. Vision: Angebote zur Bewusstseinsbildung (nach Artikel 8 der UN-Behindertenrechtskonvention), um das selbstverständliche Miteinander von gehörlosen, hörbehinderten und hörenden Menschen im Unterricht zur Normalität werden zu lassen. Das beinhaltet auch, dass an Schulen – nicht nur dann, wenn gehörlose Kinder sie besuchen – die Gebärdensprache und Gehörlosenkultur Anwendung findet (z.B. als Unterrichtsfach).

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