Elternwahlrecht ist kein Weg zu einem inklusiven Schulsystem

In Österreich wurde bereits 1993 das Wahlrecht für Eltern von Kindern mit Behinderungen eingeführt. (Dieser Beitrag ist auf blickklick.de erschienen.)

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Nicht die Fachleute, sondern die Eltern sollten für ihr Kind entscheiden, ob es eine allgemeine oder eine Förderschule besuchen solle.

Im Nationalen Bildungsbericht (2009) ist die Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Österreich insgesamt und in den einzelnen Bundesländern untersucht worden. Das Ergebnis sollte Eltern, die dieses Modell nun auch von deutschen Bildungspolitikern offeriert bekommen, skeptisch stimmen. Für die Steuerung einer inklusiven Entwicklung ist es allemal ungeeignet.

Große regionale Unterschiede in Österreich

Der Nationale Bildungsbericht stellt fest, dass sich die bundesweite Integrationsquote seit dem Jahr 2000/01 bundesweit bei ca. 50 % eingependelt hat und seitdem stagniert. Gleichzeitig legt er offen, dass es erstaunliche regionale Disparitäten in der Entwicklung der gemeinsamen und getrennten Förderung von Kindern mit Behinderungen gibt.

Während in der Steiermark die Integrationsquote von Kindern mit Behinderungen bei 83,4 % liegt, beträgt sie in Niederösterreich nur 32 %. Auch Vorarlberg und Tirol sind Bundesländer mit hohen Segregationsquoten und einer deutlichen Sonderschulorientierung, demgegenüber fallen die entsprechenden Quoten in der Steiermark, dem Burgenland und in Oberösterreich eher gering aus.

Unterschiedliche Elternwünsche in den Regionen?

Sehr deutlich tritt der Bildungsbericht der Auffassung entgegen, dass sich in den unterschiedlichen Entwicklungen ein unterschiedlicher Elternwunsch ausdrückt. Er führt die Unterschiede zurück „auf lokale und regionale Traditionen sowie den diesen zugrunde liegenden Einstellungen, Haltungen, Kompetenzen und Verhaltensweisen der Professionellen, insbesondere von den Schulbehördenvertreter/innen“.

Der Bericht hält als Ergebnis fest: „Das Ausmaß getrennter bzw. gemeinsamer Erziehung und Bildung scheint beliebig zu sein und weniger vom Elternwunsch als den Einstellungen und Haltungen der Professionellen und dem vorhandenen Angebot abzuhängen.“

Für Prof. Feyerer, Leiter des Instituts für Inklusive Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Linz, steht fest: „Die Verankerung des Elternwahlrechts anstelle eines Rechtsanspruchs, wie es die UN-Konvention heute unmissverständlich vorsieht, hat zu einer „Alles ist möglich, aber nichts ist fix“-Politik geführt.

In manchen Regionen kam es zu vorbildlichen Entwicklungen, in machen Regionen zu einem heute höheren Segregationsquotienten als 1993. Insgesamt zu einer Doppelgleisigkeit und damit sicherlich zur teuersten Variante, der Aufrechterhaltung beider Systeme. Will man flächendeckende und leistbare Inklusion erreichen, ist das Elternwahlrecht also sicherlich kein Weg.“

Elternwahlrecht: Verstoß gegen die UN-BRK

Jahrzehntelang haben Eltern von Kindern mit Behinderungen in Deutschland vergeblich von der Politik das Recht eingefordert, zwischen Förderschule und Regelschule wählen zu können.

Just zu dem Zeitpunkt, wo die UN-Konvention dem einzelnen Kind mit Behinderung einen individuellen Rechtsanspruch auf inklusive Bildung garantiert und die progressive Realisierung eines inklusiven Schulsystems fordert, hat die Kultusministerkonferenz (KMK) die Vorzüge des Elternwahlrechts entdeckt.

Zum Zwecke des Elterwahlrechts muss zwingend das Förderschulsystem aufrecht erhalten werden. Wie man den Elternwillen in die gewünschte politische Richtung lenken kann, haben die Juristen der KMK ebenfalls aufgezeigt: Mit dem Argument des Kindeswohls kann der Staat seine Interventionsrechte nutzen und Elternwünsche korrigieren.

In der Begründung zum „Gesetz zur Einführung der inklusiven Schule in Niedersachsen“, das im März verabschiedet werden soll, hat der Gesetzgeber die Methode peinlich genau beschrieben, wie der Elternwille gesteuert und letztendlich ausgehebelt werden kann.

„Unterstützt werden die Erziehungsberechtigten von Kindern mit Behinderungen bei ihrer Entscheidung durch die Ergebnisse und Verfahren zur Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung. Damit eine weitgehende Berücksichtigung des Kindeswohls möglich ist, soll das Verfahren mit Empfehlungen schließen, … an welcher Schulform das Kind bestmöglich gefördert werden kann.“

Und weiter heißt es: „Wenn aber Elternentscheidungen zu einer Über- oder Unterforderung der Kinder durch falsche Schulformwahl führen, dann müssen Kinder vor Scheitern, folgender Unlust oder gar völligem Schulversagen geschützt werden. Daher ist es notwendig, dass eine Schulwahlentscheidung der Erziehungsberechtigten im Interesse des Kindeswohls korrigiert werden kann.“

Was sich wie eine plausible und nachvollziehbare Argumentation im Interesse des Kindes anhört, hat aber im Kern nichts mit dem Recht auf inklusive Bildung zu tun. Dieses erfordert ja gerade, dass die Institution sich dem einzelnen Kind anpassen muss, während hier von dem alten Schulmodell ausgegangen wird, wonach das Kind zur Institution zu passen hat.

Elternwahlrecht: Legitimation für politische Untätigkeit

Steuern lässt sich der Elternwille auch über die ungleichwertige Ausstattung in den Förderschulen und allgemeinen Schulen. Genau diese Situation haben wir derzeit in allen Bundesländern.

Deshalb gibt es Eltern, die zwar die gemeinsame Unterrichtung in der allgemeinen Schule wollen, aber dann doch die Förderschule wählen müssen, weil die Bedingungen einer umfassenden Versorgung für Kinder mit schwerwiegenderen Beeinträchtigungen dort besser sind.

Statt den Konflikt von Eltern wahrzunehmen und Qualitätsverbesserungen in der Ausstattung der allgemeinen Schulen vorzunehmen, wird die geringere Nachfrage nach gemeinsamer Unterrichtung bei Eltern von Kindern mit schwerwiegenderen Beeinträchtigungen als Ausdruck des originären Elternwillens interpretiert und festgeschrieben, wenn es in der Begründung zum niedersächsischen Gesetzentwurf lapidar heißt:

Es ist „davon auszugehen, dass die Eltern dieser Kinder in erheblichem Umfang weiterhin exklusive Beschulung wünschen“. So also kann man das Elternwahlrecht auch zur Rechtfertigung der eigenen politischen Untätigkeit missbrauchen.

Elternwahlrecht: Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse

Nichts ist so gut von wissenschaftlicher Seite untersucht worden wie die Sonderschule für lernbehinderte Menschen, die aus der ehemaligen Hilfsschule hervorgegangen und heute zur Förderschule Lernen avanciert ist.

Auch Forschungsergebnisse aus jüngster Zeit bestätigen die aus früheren Untersuchungen längst bekannten negativen, ja schädlichen Effekte dieser Schulart bezogen auf die Lernentwicklung, den Lernerfolg, das Selbstkonzept. und die Aussichten auf eine berufliche Ausbildung und eine gelingende gesellschaftliche Integration.

Sie bestätigen ebenfalls, dass die Förderschule bis heute eine Schule für Arme ist. Das hat die Bildungsforscher Klemm und Preuss-Lausitz in ihrem Gutachten für das NRW Schulministerium zu der Empfehlung veranlasst, die Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache generell auslaufen zu lassen, um „die schulische Absonderung von Armutskindern zu vermeiden, die sich zudem sowohl kognitiv als auch für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung nachteilig auswirkt“.

Leider will das NRW Schulministerium, das sich gerne die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem auf die Fahne schreibt, nicht den Erkenntnissen der Gutachter, sondern dem allgemeinen Trend folgen, der auch diese Förderschulen den Eltern zur Wahl anbietet.

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