Steht die Sonderpädagogik der Inklusion im Weg?

Wie die Sonderpädagogik mit der menschenrechtlichen Verpflichtung zu Inklusion umgeht und sich ihren Einfluss auf die Bildungspolitik sichert.

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Jahrzehntelang blieb das empirische Wissen über die negativen Effekte der Förderschule und die institutionelle Diskriminierung und Stigmatisierung der Förderschüler/innen ohne bildungspolitische Konsequenzen. Erst mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sieht sich die Sonderpädagogik herausgefordert. Solange wie die Bildungspolitik jedoch „Inklusion“ ohne Paradigmenwechsel betreibt, kann die Sonderpädagogik „alten Wein in neue Schläuche“ füllen, so der Göttinger Neurobiologe Prof. Gerald Hüther.

In dem Maße, wie gemeinsames Lernen noch ein gesellschaftliches Nischenthema war und auch die Allgemeine Pädagogik die Gruppe der Kinder mit Behinderungen und sozialen Beeinträchtigungen als Klientel der Sonderpädagogik betrachtete und behandelte, konnte die Sonderpädagogik trotz der seit den späten 1960er Jahren aufkommenden Kritik den Mythos vom „Schonraum“ pflegen. Das geschah mit uneingeschränkter politischer Unterstützung. Die Politik verschonte die Förderschule nicht nur vor kritischen Überprüfungen. Sie versuchte auch durch die Umbenennung – von Hilfsschule in Sonderschule und schließlich in Förderschule – mit diversen Varianten in den einzelnen Bundesländern die historische Belastung, die dieser Schule wegen ihrer Rolle in der NS-Zeit anhaftete, zu entsorgen. Zuletzt war sie bemüht, ihr mit neuer Bezeichnung ein modernes Image zu verpassen.

Obwohl der Mythos der Förderschule als bester Förderort für Kinder mit Behinderungen und Schulleistungsschwächen auch bei vielen Lehrerinnen und Lehrern der allgemeinen Schulen noch heute nachwirkt, kann sich die Sonderpädagogik darauf allein nicht mehr verlassen. Entzieht doch die UN-BRK dem Ausschluss von Kindern mit Behinderungen aus dem allgemeinen Schulsystem die Rechtsgrundlage. Die Konvention verleiht damit der alten Frage nach Berechtigung der Förderschule im menschenrechtlichen Kontext ein brisantes gesellschaftliches und politisches Gewicht.

Wie die Sonderpädagogik von der Kritik an der Förderschule ablenken will

Einflussreiche Vertreter der Sonderpädagogik sind dazu übergegangen, die Ergebnisse der zahlreichen wissenschaftlichen Integrationsgutachten im deutschsprachigen Raum über separierte Förderung in Förderschulen vs. integrierter Förderung in Regelschulen samt und sonders in Frage zu stellen. Den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Vorzüge des gemeinsamen Lernens bezogen auf alle Dimensionen des Lernens spricht die Sonderpädagogik „aus forschungsmethodischen Gründen“ die Gültigkeit ab und sorgt für öffentlichkeitswirksame Verbreitung ihrer Behauptungen.

„Die deutschsprachigen Studien entsprechen nicht den internationalen wissenschaftlichen Standards der Evaluationsforschung“, ließ Prpf. Dr. Clemens Hillenbrand von der Universität Oldenburg zum Beispiel die Teilnehmer/innen der Fachtagung des Deutschen Philologenverbandes in Kassel 2012 wissen. „Aus forschungsmethodischen Gründen lassen sich aus den Untersuchungen daher keine Kausalitäten und auch keine Verallgemeinerungen ableiten.“ Neuere deutschsprachige Forschungsarbeiten unter Berücksichtigung internationaler Kriterien der Evaluationsforschung könnten „die postulierten positiven Effekte nicht oder nur sehr eingeschränkt nachweisen“. Den älteren Forschungsergebnissen misst er nur noch den Stellenwert von „Diskussionsbeiträgen“ bei, denen er in gönnerhafter Pose das „durchgängige Engagement“ dann aber doch nicht absprechen mag.

Die statistisch belegten niederschmetternden Leistungsergebnisse der Förderschüler/innen, die Prof. Dr. Klaus Klemm, Universität Duisburg-Essen, in aktuellen Studien hervorgehoben hat, sprechen eine deutlich andere Sprache. Auch jüngste Untersuchungen zu den Lernständen von Schülerinnen und Schülern an der Förderschule Lernen in NRW unterstreichen, dass die Förderschule weit davon entfernt ist, die Jugendlichen an den Mindestabschluss der Hauptschule heranzuführen. Das Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund hat im Rahmen einer Untersuchung zur Entwicklung geeigneter Testinstrumente für die Kompetenzmessung an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen (PARS-F) festgestellt, dass der angenommene Leistungsrückstand von zwei Jahren von Schülerinnen und Schülern der Förderschule zu den Schülerinnen und Schülern der Regelschule nicht realistisch ist. Die schwächsten 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus den Klassen 8 und 9 waren kaum in der Lage, die leichten Aufgaben von VERA 6 zu bearbeiten. „Für diese Schülerinnen und Schüler greift eher die Annahme eines Leistungsrückstandes von vier oder mehr Jahren.“

Wie die Sonderpädagogik „bewährte“ Strukturen erhalten will

Zu einem inklusiven Schulsystem zählt die Sonderpädagogik neben dem vorrangigen Gemeinsamen Unterricht in Regelklassen auch den flexiblen Einsatz vielfältiger Organisationsformen, zu denen „kleinere und intensiv unterstützte Gruppen, die für kürzere oder längere Zeiträume in der allgemeinen Schule eingerichtet werden“, ebenso gehören wie die Förderschulen. “ Diese Struktur“, so Hillenbrand, „wird dann inklusiv, wenn eine hohe Durchlässigkeit hin zum Mainstreaming angestrebt wird.“

In diesem Modell die Verwirklichung eines inklusiven Schulsystems zu sehen, weil es in vielen Ländern, auch in Finnland, so praktiziert wird, entspricht sonderpädagogischem Wunschdenken. Mit dem Inklusionsverständnis der UNESCO, auf das sich auch die UN-BRK rückbezieht, hat es nichts zu tun. Der vorbehaltlose individuelle Rechtsanspruch auf inklusive Bildung mit angemessenen Vorkehrungen für gleichberechtigte Teilhabe wird ebenso aufgeweicht wie die Staatenverpflichtung, ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln. Stattdessen werden separierende sonderpädagogische Strukturen mit der Förderschule festgeschrieben bzw. in die allgemeine Schule eingezogen. Den allgemeinen Schulen werden damit pragmatische Lösungen für den Umgang mit der so gefürchteten Heterogenität der Schülerschaft angeboten.

Die norwegische Bildungsforscherin Annelise Arnesen hat sich intensiv mit der Inklusionsentwicklung innerhalb des norwegischen Schulsystems befasst, das die Schule schon seit Jahrzehnten als Ort des gemeinsamen Lernens für alle Kinder versteht. Sie beschreibt, wie in der Praxis die Inklusionsrechte von Kindern mit Behinderungen durch die Einrichtung von Sonderklassen unter dem Dach der Gesamtschule in den letzten Jahren zunehmend unterlaufen werden. Arnesen kann zeigen, dass sich diese Tendenz nicht zufällig, sondern parallel zu der Einführung von testbasierten Leistungsmessungen und outputorientierten Leistungsvergleichen in Norwegen vollzogen hat.

Dass unter einem bildungspolitisch aufgebautem Leistungsdruck auch in anderen Ländern Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und schwachen Leistungen in dem Klassenunterricht der Regelschulen „unerwünscht“ sind, zeigen Beobachtungen der European Agency for Development in Special Needs Education. Wie viel größer ist wohl die Wahrscheinlichkeit in unserem selektiven Schulsystem bei ebenfalls gestiegenem Leistungsdruck auf die Schulen, dass Kinder mit Leistungsschwächen und Behinderungen an die Sonderpädagogen „weitergereicht“ werden.

Das propagierte „inklusive“ Modell hat aus sonderpädagogischer Sicht gleich mehrere Vorzüge: Die Förderschule muss nicht der Inklusion geopfert werden. Tiefgreifende schulstrukturelle und pädagogische Veränderungen sind nicht vorgesehen. Das Modell entspricht den Empfehlungen der KMK, die auf keinen Fall über inklusive Schulentwicklung die Grundfesten des selektiven Schulsystems und des Förderschulsystems in Frage gestellt wissen will. Und nicht zuletzt geht es einher mit einer Ausweitung der sonderpädagogischen Kompetenzen in der allgemeinen Schule.

Wie die Sonderpädagogik ihre Kompetenzen ausweiten will

Prävention mit dem Ziel, manifeste Probleme des Lernens und Verhaltens bei Kindern durch frühzeitige Förderung zu verhindern, ist nach allgemeiner Auffassung ein wichtiges Ziel für eine inklusive Schulentwicklung. Dagegen ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen die Rezeptur, die die Sonderpädagogik empfiehlt. Ihrer Meinung nach eignet sich dafür der response-to-intervention Ansatz, kurz RTI genannt, mit speziellen sonderpädagogisch gesteuerten Interventionen.

Der Ansatz sieht vor, dass Kinder, die keine oder nur geringe Lernfortschritte im Klassenunterricht zeigen, durch Tests identifiziert werden. Über einen Zeitraum von ca. 20 Wochen werden diese „Risikokinder“ dann in Stufe 2 mit Trainingsprogrammen entweder allein oder in Kleingruppen außerhalb des Klassenunterrichts oder im Klassenunterricht gefördert. In dieser Zeit werden in kurzen Abständen ein- bis zweimal pro Woche Lernfortschrittsdiagnosen gemacht, die es erlauben sollen, die Wirksamkeit der Fördermaßnahme zu überprüfen und diese ggfs. anzupassen. Wenn eine Förderung in dieser Stufe nicht erfolgreich ist, d.h. die Kinder immer noch nicht „respondieren“, wird die Förderung auf der Basis umfassender Diagnostik und häufiger Lernfortschrittsdiagnostik in der Stufe 3 intensiviert. Die Diagnostik und Förderung kann dann an der allgemeinen Schule oder an der Förderschule stattfinden. Da die Sonderpädagogik davon ausgeht, dass für 20 % der Kinder Stufe 2 in Frage kommt und für 5 % Stufe 3 der Förderung notwendig ist, weitet sich die Zuständigkeit der Sonderpädagogik mit diesem Programm auf 25 % der Kinder aus.

Das RTI -Konzept basiert auf personenbezogener, kontextloser Diagnostik, die Objektivität, Eindeutigkeit und Wissenschaftlichkeit suggeriert und eine hierarchische Beziehung zwischen dem Experten und dem Kind etabliert. Es übersieht, dass Menschen keine trivialen Maschinen sind und pädagogische Prozesse nicht linear ablaufen, sondern vielschichtig und vernetzt.

Wie mit dem sonderpädagogischen Präventionskonzept „alter Wein in neue Schläuche“ umgefüllt wird

Prof. Hüther hat aus neurobiologischer Sicht eine Einschätzung des RTI-Ansatzes vorgenommen und grundsätzlich festgestellt, dass „nur durch eine tiefgreifende Veränderung der gegenwärtig in Schulen herrschenden Lern- und Beziehungskultur und ein neues Verständnis von Lehren und Lernen“ die praktische Umsetzung von Inklusion in Schulen gelingen kann. „Der dazu erforderliche Paradigmenwechsel bedeutet eine konsequente Abkehr von allen bisherigen Selektions- und Allokationsbemühungen durch die Lehrkräfte und eine stringente Orientierung und Förderung entlang der Stärken jedes einzelnen Schülers.“

Hüther räumt ein, dass auf den ersten Blick RTI den Eindruck eines individuellen Förderansatzes vermittelt. „Bei näherer Betrachtung wird auch hier nach wie vor selektiert und damit die alte Defizitorientierung beibehalten: Wer auf die Fördermaßnahmen nicht in einer vorher festgelegten Weise reagiert, wird der nächsten Stufe von Fördermaßnahmen zugeführt.“

Letztlich bleibt alles beim Alten: „Lehrkräfte bleiben so in der gleichen Funktion wie bisher und können kein neues Selbstverständnis ihrer Rolle entwickeln. Schüler erleben sich nach wie vor als Personen, die bewertet und zugeordnet werden. Und Eltern werden nach wie vor darauf achten und einfordern, dass ihr Kind bei dieser Prozedur möglichst gut abschneidet. Das ist kein Paradigmenwechsel, sondern das, was der Volksmund als das Umfüllen ‚alten Weins in neue Schläuche‘ nennt.“

Wie die Bildungspolitik sich an den Interessen der Sonderpädagogik orientiert

Solange die Bildungspolitik in Deutschland Inklusion letztlich reduziert auf die Kinder mit Behinderungen, solange bleibt Inklusion auch eine Angelegenheit der Sonderpädagogik und ihrer Interessen. Die konventionswidrige Grundentscheidung der Bildungspolitik für das Elternwahlrecht ist keine Entscheidung für mehr demokratische Rechte, wie der erste Blick es nahelegen mag, sondern folgt in Übereinstimmung mit den eigenen Interessen am Erhalt des selektiven Schulsystems den Interessen der Sonderpädagogik nach institutionellem Erhalt der Förderschule.

Die Folgen sind schwerwiegend und weitreichend: Die perspektivische Entwicklung eines inklusiven Schulsystems ohne Kategorisierung, ohne Selektion und ohne Segregation wird blockiert. Eltern die Förderschule weiterhin als Angebotsschule zu offerieren, schadet den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Die heutigen Förderschulen für Kinder mit Lern- und Entwicklungsproblemen sind wie zu Zeiten der Entstehung der Hilfsschule im ausgehenden 19. Jahrhundert Schulen für arme Kinder. Aus der extremen sozialen Entmischung und der hohen sozialen Belastung der Schülerschaft resultieren Bildungsarmut, negatives Selbstkonzept und in Verbindung damit auch abweichendes soziales Verhalten.

Wenn der Landesrechnungshof Nordrhein-Westfalen in seinem diesjährigen Bericht an den Landtag „über die Prüfung des Schulbetriebs an öffentlichen Förderschulen“ feststellt, dass es zwar nur in sehr wenigen Fällen zu einer Rückschulung der Kinder mit Lernproblemen in die allgemeinen Schulen kommt, aber sehr viel häufiger Schüler/innen mit einem festgestellten Förderbedarf Lernen später als Schüler/innen mit emotionalem und sozialem Förderbedarf diagnostiziert werden, dann hört man das Misstrauen der Landesbehörde heraus. Zumal der Wechsel zwischen diesen Förderschwerpunkten ohne Wechsel des Förderortes den betreffenden Förderschulen zu einer günstigeren Schüler-Lehrer-Relation und damit zu einem höheren Lehrerstellenbedarf verhilft. Ohne den Verdacht auf „Selbstbedienung“ gänzlich auszuschließen, lässt sich das Ergebnis auch als Beleg dafür nehmen, dass die soziale Ghettoisierung in der Förderschule für etliche Schüler/innen durchaus umfangreiche Verhaltensprobleme nach sich zieht.

Woran orientiert sich NRW?

Das Land will auf keinen Fall selbst Verantwortung übernehmen und einen bildungspolitischen Beschluss zur Schließung von Förderschulen treffen. Im Unterschied zu anderen Bundesländern spekuliert das Schulministerium aber mit der Kopplung des Elternwahlrechts an die Einhaltung von Mindestgrößen bei den Förderschulen gänzlich ungeniert in seiner Planung darauf, dass mit der Abgabe der Verantwortung „nach unten“ über das Elternwahlverhalten kurz- bis mittelfristig das Ende der Förderschulen im Bereich der Lern- und Entwicklungsprobleme eingeläutet wird. Die Befürworter der Förderschule stemmen sich gegen die Strategie des Schulministeriums. Ein „Vorreiter“ im Kampf um den Erhalt seiner Förderschulen ist der Kreis Borken. Er hat in der Hoffnung auf Argumentationshilfen gegen drohende Schließungen das Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund sogar damit beauftragt, die Förderschulen im Kreisgebiet im Hinblick auf Stärken und Qualität, Erreichbarkeit und Ausstattung zu durchleuchten. Man darf gespannt sein auf das Ergebnis.

Bezogen auf die Moderatorenausbildung für die Lehrerfortbildung in NRW ist es der Sonderpädagogik gelungen, die sonderpädagogische Sicht auf inklusive Unterrichts- und Schulentwicklung zu verankern. Einer der maßgeblichen Konzeptentwickler für die Professionalisierung der mehr als 300 Moderatoren und Moderatorinnen in den 53 landesweiten Kompetenzteams für die schulinterne Lehrerfortbildung ist Prof. Hillenbrand. Es verwundert also nicht, dass auch das (inklusions-)pädagogisch unakzeptable und kontraproduktive RTI-Konzept Eingang gefunden hat in die Moderatorenqualifizierung und sich damit auch in den Modulen für die Lehrerfortbildung ganz explizit wiederfindet. Da das noch unveröffentlichte Fortbildungsprogramm für die Lehrerinnen und Lehrer völlig unqualifiziert angelegt ist und mit schöner „Inklusionslyrik“ die harten Widersprüche zum System und die Defizite im System schlicht ignoriert, ist mit heftigen Diskussionen zu rechnen. Daran knüpft sich die Hoffnung, dass grundlegende Korrekturen noch möglich sind und auch der RTI-Ansatz entfernt werden kann.

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