Sommercamp: Für ein selbstbestimmtes Leben

Vom 3. bis 8. August 2014 fand in Duderstadt in Niedersachsen ein Sommercamp für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung statt.

Tischfußball beim Sommercamp 2014 mit verbundenen Augen
Hanuschke, Jens

Hätte eine der Organisatorinnen dieses Camps, Nadine Heckendorn, nicht getwittert, dass für die Organisation noch AssistentInnen gesucht werden, wäre diese Nachricht wohl an mir vorbeigegangen.

Zum Glück sprang mich diese Nachricht beim abendlichen Durchscrollen an. Die Beschreibung des Camps las sich wie folgt:

Zum 7. mal lädt das Bildungs- und  Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter – bifos e.V. – wieder zum „Sommercamp“ nach Duderstadt und bietet einen Rahmen für den Austausch von Menschen mit und ohne Behinderung. Wir laden hierzu alle ein, die sich für ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen stark machen. Dieses Sommercamp baut darauf auf, dass die TeilnehmerInnen das Programm selbst aktiv gestalten. Eigene Ideen und Angebote für Veranstaltungen sind also gefragt. So können die TeilnehmerInnen zum Beispiel Erzählabende in einer lauen Sommernacht am Lagerfeuer, Diskussionsrunden, Arbeitsgruppen, Beratungsangebote, Vorträge oder Berichte über Reisen oder auch Tischfußball- oder Karten-Turniere und Walken am Morgen anbieten.
Die Behindertenpolitik wird bei diesem Sommercamp aber auf keinen Fall zu kurz kommen. Denn wir wollen damit viele Impulse für ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen geben.

Die Idee begeisterte mich sofort

Ich bewarb mich als Assistentin und wurde ein paar Wochen später mit freudigen Armen im ICE nach Göttingen empfangen. Natürlich war ich aufgeregt – immerhin hatte ich vorher noch nicht mit Menschen mit Behinderung zusammengearbeitet – doch während der Zugfahrt und auf dem späteren Weg nach Duderstadt blieb gar keine Zeit mehr fürs Grübeln.

Ich lernte den Rest des Orgateams kennen, stellte unglaublich viele Fragen zum Camp und fühlte mich bald in bester Gesellschaft. Als am nächsten Tag nach und nach die Gäste anreisten, wurde schnell klar, wie großartig diese Woche werden würde.

Eine ausgelassene Freude des Wiedersehens erfüllte die Eingangshalle neben der wunderschönen Terrasse des Jugendgästehauses Duderstadt. Manche TeilnehmerInnen kommen jedes Jahr zum Camp, das abwechselnd in Duderstadt und in Graz stattfindet.

So viel positive Lebensenergie auf einem Haufen habe ich selten erlebt

Bei der Vorstellungsrunde am Abend sagte eine Teilnehmerin, die von Anfang an dabei war, das Sommercamp sei ihre Droge. Rückblickend muss ich ich ihr Recht geben. Es war ein absoluter Höhenflug. Aus ganz Deutschland und Österreich kamen Menschen mit den unterschiedlichsten Arten von Behinderung zusammen.

Rollstuhlastronauten, Vollblinde, Menschen mit Lernschwierigkeiten, Menschen, die in keine Schublade passen. Ohne Schublade ist auf einmal richtig viel Platz. Platz für einen regen Austausch und die Möglichkeit, gemeinsam Kraft zu schöpfen.

Ob nun beim Eis essen, Vorträgen über Autofahren mit Behinderung lauschen, Spazieren gehen, rollen und fahren oder beim Skatspiel mit Braille-Karten: überall wurde man sofort mit eingeschlossen. Das Camp hat mir gezeigt, wie egal es ist, was du nicht kannst, solange es eine Gemeinschaft gibt, die aufeinander achtet. Wenn wir unsere Stärken kombinieren, sind wir unschlagbar und nicht unterzukriegen.

Ich könnte euch Unzähliges dazu schreiben, zum Beispiel wie ein Blinder sich kuzerhand am Rollstuhl von Nadine festhielt, um ihr ohne Blindenstock schnell von A nach B zu folgen. Oder wie ein persönlicher Rollstuhl mal eben verliehen wurde, damit eine leicht gehbehinderte Person den Stadtbummel nicht verpassen muss.

Oder das Kickertunier, bei dem beim Spiel gegen zwei Vollblinde dem Team die Augen verbunden wurden sind. Oder die Redaktion der eigenen Sommercamp-Zeitung, bei der Menschen, die auf leichte Sprache angewiesen sind, geduldig Artikel für Artikel auf Verständlichkeit prüften. 

Am selben Abend sagte jemand: „Das ganze Jahr über sind wir in der Unterzahl, jetzt sind wir Behinderten mal in der Überzahl. Das macht echt mal Spaß!“ Ich konnte diesen Satz gut nachvollziehen.

Als später von der entwürdigen Bevormundung von Menschen mit Behinderung durch Ämter, Arbeitgeber und teilweise sogar durch Betreuer berichtet wurde, begriff ich, dass dieser Satz auch eine Schattenseite in sich trägt. Die  meisten Menschen mit Behinderung leiden nicht unter der Behinderung, sondern unter Fremdbestimmung und Bevormundung.

Als Mensch ohne Behinderung muss man begreifen, dass wir uns alle auf Augenhöhe bewegen, auch wenn dir dein Gegenüber nicht in deine Augen blicken kann, weil er z.B. blind ist. Ein Mensch mit Behinderung hat den gleichen Drang nach Freiheit wie ein Mensch ohne Behinderung. Warum gibt es immer noch so viele „Normalos“, die das nicht begreifen und Menschen mit Behinderung behandeln, als seien sie auf allen Ebenen unterentwickelt? 

Große Auswahl beim Programm

Aus  diesen Gründen fiel besonders das Wort Assistenz ist Auge. Die Begleitung der Campteilnehmer nannte sich Assistentinnen bzw. Assistenten und ich fragte mich, wo der Unterschied zu der mir bekannten Bezeichnung Betreuerin bzw. Betreuer liegt. Ausführliche Erklärungen dazu fand ich hier:

Der Begriff „Assistenz“ wurde ursprünglich geprägt, um schon über die Wortwahl selbstbestimmte von fremdbestimmter Behindertenhilfe abzugrenzen. Die ursprünglich neutralen Worte ‚Betreuung‘, ‚Versorgung‘, ‚Pflege‘ werden nicht selten im Sinne von Fremdbestimmung und Bevormundung benutzt. Assistenz bei der Körperpflege zu benötigen, bedeutet stets gravierende Eingriffe in die Intimsphäre erdulden zu müssen. Umso wichtiger ist es,  die Assistenzpersonen selbst aussuchen zu können. Unsympathische  und/oder ungeeignete AssistentInnen stellen für die assistenznehmenden Menschen eine große psychische Belastung dar. Besonders (aber nicht ausschließlich) für Frauen ist es sehr wichtig, gleichgeschlechtliche  Assistenzpersonen auswählen zu können. So können Vertrauensverhältnisse schneller aufgebaut und sexualisierter Gewalt besser vorgebeugt werden.

Das leuchtete ein. Immer wieder konnte ich beim Sommercamp dieses vertrauensvolle Verhältnis erleben, was auf uns als gesamte Gruppe ausstrahlte. Es war nicht mehr wichtig, ob und wenn ja, welche Behinderung man hatte, wir waren alle nur noch Menschen, die gemeinsam lachen, weinen und Händchen halten wollen.

Wenn die Schranken in unseren Köpfen erst einmal überwunden werden, ist der wichtigste Schritt zu Barrierefreiheit getan. Und glaubt mir, es lohnt sich.

Wenn 60 Leute gemeinsam am Lagerfeuer sitzen, Rollstühle und Blindenstöcke durch dich haltende Hände ersetzt werden und jeder ein verkohltes Stockbrot in den Händen hält, weißt du, dass Inklusion keine Utopie sein muss, sondern Realität ist, wenn wir nur wollen. 

PS: Das nächste Sommercamp findet vom 26. bis 31. Juli 2015 in Graz (Österreich) statt. Stay tuned. 

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