Böses Erwachen zu Beginn des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung!

Die Führung eines selbstbestimmten Lebens behinderter Menschen wird zugunsten der Schaffung von Arbeitsplätzen im Bereich von Pflegedienstleistungen in Frage gestellt. "Behinderte contra Arbeitslose", der Zweck heiligt offenbar jedes Mittel.

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Da sich in den letzten Tagen die SPÖ unüberhörbar mehrfach für die Umwandlung des Pflegegeldes in Sachleistungen und die Einführung von Pflegeschecks ausgesprochen hat, möchte ich als selbst blinde Frau und Mutter aber auch als Juristin und Vorsitzende des Vereines Blickkontakt, einer Interessensgemeinschaft sehender, sehbehinderter und blinder Menschen, ein paar Denkanstöße für die Sondierer und „Parallel“-Verhandler dieses Landes geben.

Zunächst einmal dachte ich, dass das Pflegegeld den Zweck hat und auch haben soll, behinderten Menschen ein selbstbestimmtes und bedürfnisorientiertes Leben zu ermöglichen; zumindest ist das im Jahr 1993, als die Pflegegeldgesetze geschaffen wurden, als der große Fortschritt gefeiert worden. Will man von der freien Disposition über das Pflegegeld und der Ermöglichung eines selbstbestimmten, bedürfnisorientierten Lebens für behinderte Menschen jetzt ernsthaft abgehen und behinderte Menschen zwingen, irgendwelche Sachleistungen in Anspruch nehmen zu müssen, auch wenn sie das gar nicht wollen, weil sie ihren Bedürfnissen oder ihren Qualitätsanforderungen nicht entsprechen oder weil sie lieber vertraute Personen um Hilfe ersuchen? Und das noch dazu gleich zu Beginn des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung 2003, in dem die Pflegegeldgesetze ihren zehnten Jahrestag feiern?

Der Zwang, bestimmte soziale Dienste – wie etwa Essen auf Rädern, Heimhilfe … – in Anspruch nehmen zu müssen geht außerdem eindeutig an den konkreten Bedürfnissen sehbehinderter und blinder Menschen vorbei. Wir benötigen Begleitpersonen für Einkäufe, Amtswege, Arztbesuche, brauchen Hilfspersonen für Haushaltstätigkeiten, das Sortieren der Kleidung und benötigen Vorlesekräfte für die Post und dergleichen, kurz persönliche Assistenz. Für all das ersuchen wir primär Familienangehörige oder Freiwillige, wie etwa Studenten, und können uns mit dem Pflegegeld dafür auch erkenntlich zeigen. Professionelle Dienstleister spielen da kaum eine Rolle, da sie zumeist unsere Bedürfnislagen nicht abdecken und auch viel zu teuer kämen. Und das gilt offenbar nicht nur für sehbehinderte und blinde Menschen; so werden ja rund 90% der PflegegeldbezieherInnen zuhause von Angehörigen gepflegt und das noch dazu in hervorragender Qualität, wie man jüngst durchgeführten Untersuchungen des Sozialministeriums zur Pflegevorsorge entnehmen konnte.

Ich habe zwar auch Volkswirtschaftslehre in meinem Jusstudium gehabt, aber dass das Pflegegeld oder gleichartige Sozialleistungen ein Instrument der Arbeitsmarktpolitik wären, ist mir entgangen. Nun, mehr Geld in den Ausbau der Dienstleistungen zu investieren ist ja grundsätzlich ok, denn behinderte Menschen fordern seit Jahren – mehr oder weniger erfolglos – ein breites Angebot an persönlicher Assistenz, die auch sehbehinderten und blinden Menschen nützen würde, doch ich dachte immer, das ist eine Ländersache, oder?

Und eine Frage stellt sich mir auch noch: Professionelle Dienstleistungen – etwa im Bereich persönlicher Assistenz – kommen mit Sicherheit viel teurer als Assistenzleistungen durch Angehörige oder Freiwillige. Woher wird denn der Mehraufwand bedeckt? Durch eine entsprechende Pflegegelderhöhung? Oder bedeutet das gar, dass wir mit einem Sachleistungs- und Schecksystem entweder einfach mehr aus der eigenen Tasche berappen oder weniger Assistenzleistungen in Anspruch nehmen können?

Wie verträgt sich all das eigentlich mit der im Nationalratswahlkampf auch von der SPÖ immer wieder geäußerten Forderung nach einem Behindertengleichstellungsgesetz?

Also gut, das waren natürlich viele Denkanstöße, doch die muss man wohl in Anbetracht der vehementen Forderung von Sachleistungen und Pflegeschecks statt des frei verfügbaren Pflegegeldes auch lautstark vorbringen, denn für uns behinderte Menschen wäre diese Abkehr vom Grundsatz der Führung eines selbstbestimmten, bedürfnisorientierten Lebens ein unfassbarer Rückschritt in der Behindertenpolitik dieses Landes. Und vielleicht kommt dann doch auch bei der SPÖ noch das von ihr selbst kürzlich geforderte Aha-Erlebnis.

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