Die Schwedische Assistenzreform

BIZEPS und die Wiener Assistenzgenossenschaft haben Dr. Adolf Ratzka aus Schweden sowie hochrangige Beamten zu einem Informationsnachmittag "Persönliche Assistenz in Schweden - Gesetz und Umsetzung" eingeladen.

Adolf Ratzka
BIZEPS

Am 3. Dezember 2003 hatten Beamten des Sozialministeriums, der Behindertenhilfe der Stadt Wien sowie dem Bundessozialamt die Möglichkeit, Dr. Adolf Ratzka – nach einem Einstiegsreferat – zum Schwedischen Assistenzgesetz zu befragen. Ratzka, Volkswirt und Menschenrechtler, kommt ursprünglich aus München und lebt seit über 20 Jahren in Schweden. Er ist nach einer Kinderlähmung Rollstuhlfahrer und benötigt ein Atemgerät. In den 80er Jahren gründete er STIL – die Stockholmer Assistenzgenossenschaft.

Die Veranstaltung von BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben und der WAG (Wiener Assistenzgenossenschaft) bot den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Gelegenheit, über Erfahrungen aus Schweden und Forderungen aus Österreich kompakt und im geschützten Rahmen zu diskutieren.

„Schweden ist ein Land mit großen wirtschaftlichen Problemen, die auf eine überalterte Bevölkerung und auf Abhängigkeit von einigen wenigen konjunkturempfindlichen Industriezweigen zurückzuführen sind.“ erläutert Ratzka die Ausgangslage.

Jedesmal wenn er ins Ausland fährt, fällt ihm der höhere materielle Wohlstand auf und er kommt sich wie der arme Vetter vom Lande vor. Laut Statistik hat Schweden z. B. die ältesten Autos in der EU. Gemessen an der Kaufkraft des Durchschnittsbürgers befindet sich Schweden, laut neuester OECD Statistik an 16. Stelle, Österreich an 10. Stelle, berichtet Ratzka.

In Schweden werden 1,1 Milliarden Euro jährlich vom Bund an Assistenzzahlungen geleistet. Diese staatlichen Gelder sind jedoch nur zum Teil neue Kosten, denn sie ersetzen Sachleistungen der Gemeinden.

Das schwedische Beispiel zeigt, dass ein Land nicht reich sein muss, um seinen behinderten Bürgern ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. „Wenn es nun nicht am Geld liegt, woran liegt es dann?“ fragt Ratzka.

Im Rahmen der Veranstaltung wurde den Beamten auch recht plastisch die Lebenssituation von behinderten Menschen mit hohem Assistenzbedarf in Österreich anhand persönlicher Beispiele aufgezeigt.

Die erfolgreiche Veranstaltung dauerte knapp drei Stunden und hat einen guten Einblick in die Schwedische Assistenzreform gebracht, sowie Handlungsmöglichkeiten für Österreich aufgezeigt.

Die Schwedische Assistenzreform von 1994
SprecherIn: Dr. Adolf Ratzka (Institute on Independent Living)
Audioquelle: Dr. Adolf Ratzka

Ich habe einen Assistenzbedarf von im Durchschnitt 18 Stunden am Tag. Das wurde in einem Gespräch mit der Sachbearbeiterin am örtlichen Büro der staatlichen Sozialversicherung festgestellt. Ein altes allgemeines ärztliches Attest, das Ursache und Ausmaß meiner Behinderung erwähnt, spielte dabei eine nur untergeordnete Rolle, denn laut Gesetz bestimmt die ganze Lebenssituation den Assistenzbedarf.

Ich bin verheiratet, unsere Tochter ist 9 Jahre alt. Meine Frau und ich sind berufstätig. Laut Gesetz sollen die Assistenzleistungen die in der schwedischen Gesellschaft übliche Arbeitsteilung innerhalb der Familie ermöglichen. Ich kann also meine Assistenten dazu einsetzen, mir beim Von-Der-Schule-Abholen, beim Einkaufen, Kochen, Putzen, etc. zu helfen. Einfache Arbeiten oder Reparaturen am Haus und im Garten lasse ich auch von ihnen machen – also alles, was ich selbst erledigen würde, wenn ich nicht behindert wäre.

Mit Hilfe meiner Assistenten kann ich arbeiten. Eine der wichtigsten Funktionen dabei ist die Reisebegleitung. Als Leiter des Instituts für Independent Living bin ich oft unterwegs. Da meine Frau ihren eigenen Beruf hat, verreisen wir nur im Urlaub zusammen und auch da nehme ich einen Reiseassistenten mit, damit wir möglichst die gleiche Unabhängigkeit voneinander haben, die in anderen Familien üblich ist. Für die Reisekosten des Assistenten habe ich ein Budget für Flugtickets, Hotelzimmer, Mahlzeiten und Eintrittskarten. Dieses Budget ist in den monatlichen Zahlungen der Sozialversicherung bereits einbegriffen – ich muss also nicht jedes Mal Gesuche einreichen, wenn ich für meinen Assistenten eine Flugreise buche.

Zur Zeit arbeiten acht verschiede angestellte und bezahlte Assistenten stundenweise für mich – meine Frau ist übrigens auch dabei, denn manchmal wollen wir unter uns sein. Ich könnte aber auch ohne sie gut auskommen. Das ist unsere freie Wahl, die uns die Assistenzgelder ermöglichen. Wenn sie privat oder beruflich verreist, komme ich ja auch ohne sie gut zurecht.

Sechs Assistenten arbeiten nach einem Wochenschema, die restlichen habe ich als Reserve. Keiner meiner Assistenten arbeitet ganztätig bei mir. Zwei sind freiberufliche Musiker, die ihr unsicheres Einkommen durch Assistenzarbeit bei mir ergänzen. Drei Assistenten kommen aus Lateinamerika und schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Zwei weitere studieren. Es gibt in Schweden keine Zivildienstleistenden, worüber wir sehr froh sind. Der Stundensatz, der von der Sozialversicherung an Assistenznehmer ausgezahlt wird, ermöglicht uns, einigermaßen marktgerechte Löhne zu bezahlen. Zwangskommandierte Zivildienstleistende wären zwar billiger, würden aber das Berufsbild verschlechtern und unsere Personalsituation erschweren.

Die Genossenschaft hat jedoch nichts mit der Beschaffung von Assistenten zu tun: wir haben keine gemeinsamen Assistenten, jedes Mitglied muss sich selbst seine Leute suchen. Nur so kann die größtmögliche Selbstbestimmung der einzelnen Mitglieder gestärkt werden. Aber die Genossenschaft hilft neuen und alten Mitgliedern in ihren Aufgaben durch Kurse und Peer Support – also gegenseitiges Lernen und Unterstützen durch Gleichgestellte.

Assistenznehmer bekommen ihre Gelder monatlich im voraus von der Sozialversicherung. Jedes Jahr setzt die Regierung die Höhe des pauschalen Stundensatzes für das darauf folgende Jahr fest. Für 2003 beträgt er ungefähr 22 Euro. Ich bekomme also einen monatlichen Betrag von 18 Stunden mal 31 Tagen mal 22 Euro. Damit bezahle ich die direkten und indirekten Lohnkosten meiner Assistenten und die Verwaltungskosten der Genossenschaft. Was übrig bleibt, kann ich für die Reisekosten meiner Assistenten und ähnliche Ausgaben benutzen.

Die Gelder werden an mich ausgezahlt. Jedes Monat muss ich nachweisen, wie viele Stunden meine Assistenten gearbeitet haben. Ungenutzte Beträge werden nach einem halben Jahr verrechnet. Aber innerhalb dieses Zeitraums kann ich mit den Stunden nach meinem Guthalten haushalten.

Die Beträge sollen meinen Assistenzbedarf in vollem Umfang decken – nicht nur einen Teil. Die Kostendeckung ist unabhängig vom Einkommen und Vermögen der Assistenznehmer, ihrer Ehepartner oder der sonstigen Familie.

Mit den Geldern der staatlichen Sozialversicherung könnte ich auch Dienstleistungen von anderen Trägern kaufen, z. B. der Stadt Stockholm, die mir ihre Angestellten nach Art der städtischen Ambulanten Dienste ins Haus schicken würde. Private Firmen und andere Genossenschaften, die STIL als Vorbild haben, bieten ähnliche Dienste an. Außerdem gibt es die Möglichkeit, selbst Arbeitgeber seiner Assistenten zu sein. Auch hier gilt der gleiche Stundensatz. All diese Lösungen und ihre Kombinationen sind zugelassen um Vielfalt, Wahlmöglichkeit und Konkurrenz zu fördern.

Um sich für die Zahlungen der Versicherungskasse zu qualifizieren, muss ein Mindestbedarf von 20 Wochenstunden Assistenz bei den grundlegenden Tätigkeiten wie Essen, der Körperhygiene oder beim Sich-Verständigen sprechbehinderter Menschen vorliegen. Wird ein Grundbedarf von 20 Wochenstunden festgestellt, hat man darüber hinaus Anspruch auf Stunden für andere Lebensbereiche, wie z. B. für Assistenz am Arbeitsplatz, Assistenz im Haushalt, in der Freizeit oder bei der Arbeit mit Kindern.

Es gibt keine obere Grenze für den täglichen Stundenbedarf und ich kenne Kollegen, denen 27 Stunden am Tag bewilligt wurden, weil sie manchmal 2 Assistenten gleichzeitig brauchen.

Aus staatsfinanziellen Gründen wurde das Höchstalter der Assistenznehmer auf 65 Jahre begrenzt – ein Mindestalter gibt es nicht. Ohne Altersgrenze wäre die Zahl der Berechtigten wahrscheinlich mindestens 20 mal so groß. Zwar kann man die Gelder nach dem 65. Geburtstag weiterbeziehen, aber jemand der erst nach dem 65. Geburtstag behindert wird, kann nicht diesem exklusiven Club beitreten.

Menschen, die nicht für die Assistenzzahlungen der Sozialversicherung in Frage kommen, beziehen ihre praktischen Hilfen im Alltag von den Gemeinden. Die Gemeinden können dabei entscheiden, ob sie dieser Verantwortung in Form von Geld- oder Sachleistungen nachkommen.

Der Unterschied in der Lebensqualität, die die staatliche Assistenzreform und die Gemeinden ermöglichen, ist beträchtlich. Laut Gesetz sind die Gemeinden nur angehalten, eine ”angemessene” Lebensqualität zu unterstützen. Sie sind nicht für Sach- oder Geldleistungen außerhalb der Gemeindegrenzen verantwortlich. Die staatlichen Sozialversicherungsgelder sind dagegen exportierbar. Ich bezog z. B. meine Assistenzgelder während meines Sabbatjahrs an der Universität von Costa Rica. Außerdem sollen die Sozialversicherungsgelder, laut Gesetz, eine ”gute” Lebensqualität ermöglichen, was mehr Stunden bedeutet.

Ohne die staatliche Assistenzreform hätten meine Frau und ich mit dem Heiraten gezögert, weil die damaligen ambulanten Dienste der Gemeinde zu schlecht waren, um eine ebenbürtige, sich gegenseitig unterstützende Partnerschaft zu ermöglichen, die beiden Teilen genügend Freiraum lässt, sich in seine eigene Richtung zu entwickeln. Wir hätten sicherlich kein Kind, weil alle Arbeit mit Kind und Haushalt – und zum Teil mit mir – an meiner Frau hängen geblieben wäre und weil ich in meiner Vaterrolle zu sehr eingeschränkt gewesen wäre. Mit den ambulanten Gemeindediensten hätte ich kaum meine jetzige Arbeit, könnte nicht ohne meine Frau verreisen oder gar im Ausland arbeiten.

Welche Schlusssätze kann man aus dieser Beschreibung ziehen?

Um Menschen ein Dasein im Heim zu ersparen sind ausreichend barrierenfreie Wohnungen und ausreichende Assistenz erforderlich. In Schweden gibt es seit einigen Jahrzehnten keine Wohnheime für Köperbehinderte mehr. Seit 1978 müssen laut schwedischen Baunormen Mehrfamilienhäuser mit mehr als 2 Stockwerken barrierenfrei gebaut werden. Alle Wohnungen auf allen Stockwerken müssen mittels geräumiger Aufzüge erreichbar sein, ohne Stufen oder Schwellen mit mehr als 3 cm Höhe zwischen Bürgersteig und Wohnungstüre; mit geräumigen Badezimmern und Küchen. Etwa 10% des gesamten Stockholmer Wohnungsbestands sind meiner Schätzung nach barrierenfrei.

Auch Menschen mit geistigen Behinderungen wohnen heute entweder allein oder in kleineren so genannten Gruppenwohnungen mit ungefähr fünf Personen pro Wohnung plus Personal. Die Reform von 1994 gibt dem Einzelnen das gesetzlich garantierte Recht – das allerdings von den Gemeinden manchmal nicht respektiert wird – auf Wohnen in der Gesellschaft.

Es gibt heute kaum jemanden in Schweden, der die Rückkehr der Einrichtungen fordern würde.

Ein Grund dafür ist vermutlich, dass Schweden – im Gegensatz zu anderen Ländern – keine Wohlfahrtsindustrie hat – also private Träger mit starker Lobby und guten politischen Kontakten, die schon immer Heime betrieben haben, deren Organisationsstruktur nur langsame und geringe Veränderungen erlaubt und die wenig wirtschaftliches Interesse daran haben, in ihrer Öffentlichkeitsarbeit Menschen mit Behinderungen als fähige Bürger darzustellen, die voll im Stande sind, in der Gesellschaft, wie andere Menschen, selbstbestimmt zu leben und zu arbeiten.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich