Schreckgespenst Barrierefreiheit

Wird das österreichische Behindertengleichstellungsgesetz Barrierefreiheit verbindlich vorschreiben? Wenn ja, wie und ab wann?

Abbau von Barrieren!
Krispl, Ulli

Nicht nur das seitens der Behindertenbewegung vehement geforderte Verbandsklagerecht für eine Vielzahl spezialisierter Verbände und Vereine zur Führung von Musterprozessen ist bei den Diskussionen um das geplante Behindertengleichstellungsgesetz wild umstritten; auch die Frage, ob im Behindertengleichstellungsgesetz die Barrierefreiheit verbindlich vorgeschrieben werden soll und wenn ja, in welcher Form und ab wann, wird stets kontroversiell gesehen.

Im Rahmen einer Gesprächsrunde zum Behindertengleichstellungsgesetz am 16. Februar 2005 im Parlament in Wien, an der sowohl Behindertenvertreter als auch hochrangige Vertreter der Wirtschaftskammer Österreich teilnahmen, wurden jedoch nicht unwesentliche Übereinstimmungen erkennbar.

So sprachen sich die Vertreter der Wirtschaftskammer Österreich ebenso wie die Behindertenvertreter dafür aus, dass

  • die Barrierefreiheit im Behindertengleichstellungsgesetz vorgeschrieben werden soll,
  • die Barrierefreiheit im Sinne größtmöglicher Rechtssicherheit für alle Beteiligten auch genau definiert werden soll,
  • Neubauten bzw. Neuanschaffungen ab Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes barrierefrei zu gestalten seien und
  • Nachrüstungen bzw. Adaptierungen an die Standards der Barrierefreiheit von bereits bestehenden Bauten bzw. Verkehrsmitteln oder Dienstleistungen innerhalb angemessener Übergangsfristen zu erfolgen haben.

Insoweit decken sich die Forderungen der Wirtschaft mit jenen der Behindertenbewegung.

Leider entspricht der aktuelle Entwurf eines Behindertengleichstellungsgesetzes diesen Grundsätzen in wesentlichen Punkten nicht:

  1. Definition der Barrierefreiheit und Verbindlichkeit: Der aktuelle Gleichstellungsgesetzentwurf enthält nur eine sehr allgemein gehaltene Definition des Begriffs „Barrierefreiheit“, aus dem keine eindeutigen Standards erkennbar sind. Dies bringt natürlich sowohl für die betroffenen behinderten Menschen als auch für jene, die die Standards der Barrierefreiheit einzuhalten hätten, also z. B. Dienstleister, Gewerbebetriebe, Ämter etc., eine unzumutbare Rechtsunsicherheit. Verkürzt könnte man sagen, dass Barrierefreiheit „alles und nichts“ sein kann. Niemand weiß, wie man sich wirklich korrekt zu verhalten hat, also wann man den Grundsätzen der Barrierefreiheit wirklich entspricht, und so würde auch im schlechtesten Fall niemandem Recht getan und zwangsläufig eine Klagsflut ausgelöst, bei der der Standard der „Barrierefreiheit“ stets nach dem Einzelfall neu definiert würde.

    Beispiel: Ein Gasthaus hat zwei Stufen im Eingangsbereich, ist also nicht barrierefrei zugänglich. A – Rollifahrer – klagt wegen der Diskriminierung aufgrund mangelnder Barrierefreiheit und bekommt Recht. Der Gastwirt ist einsichtig und baut als Maßnahme der Barrierefreiheit eine Rampe ein. Die Rampe ist aber für B – ebenfalls Rollifahrerin – zu steil. Sie klagt wegen der Diskriminierung aufgrund der für sie mangelnden barrierefreien Zugänglichkeit und bekommt ebenfalls Recht. Der Gastwirt ist jedoch bemüht und verlängert die Rampe als Maßnahme der Barrierefreiheit, um sie abzuflachen. Jetzt ragt sie jedoch weit ins Gehsteigniveau und ist nicht abgesichert. Der blinde Mann C stürzt über die Rampe und klagt wegen der Diskriminierung aufgrund der nicht vorgenommenen Gefahrenbereichsabsicherung und bekommt auch Recht … Ein unendliches Spiel.

    Die Lösung für das Problem, die klare Standards definieren würde und größtmögliche Rechtssicherheit für alle Beteiligten brächte, wäre die Verweisung auf bereits vorhandene und von ExpertInnen der Technik und der Behindertenbewegung erarbeitete Standards der Barrierefreiheit im Behindertengleichstellungsgesetz, wie z. B. die ÖNORMEN B 1600, V 2100 bis 2106 etc.

    Leider hat es gegen die Aufnahme einer Verweisung auf ÖNORMEN im Behindertengleichstellungsgesetz seitens der Ministerienvertreter aus unterschiedlichen Gründen stets Widerstand gegeben. Und das, obwohl schon jetzt in zahlreichen Bundesrechtsvorschriften auf einschlägige ÖNORMEN zur Barrierefreiheit verwiesen wird, wie z. B. auf die ÖNORMEN B 1600 und 1601 in § 342 Abs. 1 Z 9 ASVG hinsichtlich der Barrierefreiheit von Gruppenpraxen, in § 2 Abs. 1 Z 4 der Reihungskriterienverordnung hinsichtlich der Vergabe von Kassenverträgen, sofern ein barrierefreier Zugang zur Arztpraxis innerhalb angemessener Frist gewährleistet wird, in § 15 der Arbeitsstättenverordnung und der Bundes-Arbeitsstättenverordnung hinsichtlich der barrierefreien Gestaltung von Arbeitsstätten, in § 3 Abs. 5 der Bundestheaterschutzverordnung hinsichtlich der barrierefreien Gestaltung von Behindertensitzplätzen in Bundestheatern und in § 23 Abs. 3 der Universaldienstverordnung hinsichtlich der Barrierefreiheit von öffentlichen Sprechstellen.

    Der aktuelle Gleichstellungsgesetzentwurf enthält lediglich in den Erläuterungen einen Hinweis darauf, dass einschlägige ÖNORMEN für die Auslegung des Begriffs „Barrierefreiheit“ herangezogen werden können. Doch das ist eindeutig zu wenig. ÖNORMEN sind nämlich grundsätzlich unverbindlich. Sie werden erst verbindlich anwendbar, wenn auf sie in einem Gesetz oder einer Verordnung verwiesen wird; der Verweis in Erläuterungen zu einem Gesetz bewirkt, dass sie weiterhin unverbindlich bleiben. In diesem Fall könnten sich behinderte Menschen nicht auf diese Standards berufen.

  2. Übergangsfrist: Zwei Dinge waren für die Behindertenbewegung stets klar: Erstens müssen Neubauten bzw. Neuanschaffungen nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes sofort den Grundsätzen der Barrierefreiheit entsprechen und zweitens muss es für die Adaptierung von Altbestenden, die schon vor Inkrafttreten des Gesetzes bestanden haben, angemessene Übergangsfristen zur schrittweisen Anpassung an den Standard der Barrierefreiheit geben.

    Der Grundsatz, dass Neubauten sofort barrierefrei zu sein haben findet sich sogar in Bestimmungen des geltenden Rechts, wie § 15 Abs. 6 der Arbeitsstättenverordnung sowie der Bundes-Arbeitsstättenverordnung.

    Und dennoch finden sich im aktuellen Gleichstellungsgesetzentwurf unangemessen lange Übergangsfristen; so wären die Bestimmungen zur Barrierefreiheit im Bau- und Verkehrsbereich für Altbestand, der bereits vor Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes behördlich genehmigt wurde, erst ab 1.1.2016 – also in 10 Jahren – anzuwenden, es sei denn, die Barriere wäre rechtswidrig errichtet worden, also z. B. wegen eines Verstoßes gegen eine Bauordnung oder das Eisenbahn- oder Personennahverkehrsgesetz. Innerhalb dieser unangemessen langen Übergangsfrist könnte kein behinderter Mensch eine Diskriminierung wegen mangelnder Barrierefreiheit gerichtlich bekämpfen; er könnte sich lediglich – wie bisher – auf den guten Willen oder das Glück verlassen.

    Und selbst für Umbauvorhaben, die nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes geplant und behördlich genehmigt werden, sollen, wenn diese mit öffentlichen Förderungen unterstützt werden, die Bestimmungen zur Barrierefreiheit erst ab 1.1.2008 anwendbar sein.

Eines der Hauptargumente in der Diskussion um verbindliche Standards der Barrierefreiheit und angemessene Übergangsfristen war stets, dass die Einhaltung der Standards der Barrierefreiheit „ein Vermögen“ kosten würde und sowohl öffentliche Stellen wie Unternehmer in den Ruin treiben würde. Jüngste Studien aus dem Ausland (Schweiz) zu diesem Thema haben bewiesen, dass der Aufwand bei Neubauten zwischen 0,15 und 1,8% und bei Adaptierungsmaßnahmen von Altbestand bei rd 3,5% des Gesamtaufwandes beträgt und in vielen Fällen bereits mit geringfügigsten Maßnahmen die Barrierefreiheit hergestellt werden könnte, sofern eine gute Beratung durch ExpertInnen in Sachen Barrierefreiheit stattfindet. Außerdem wurde deutlich, dass bei Neubauten die Herstellung von Barrierefreiheit nahezu immer wirtschaftlich zumutbar ist. Die Ängste der Wirtschaft und so mancher öffentlicher Stellen sind also offenkundig sachlich unbegründet.

Nachbesserungsbedarf ist also offenkundig gegeben, will man ein schlagkräftiges Behindertengleichstellungsgesetz schaffen, das seinen Namen auch tatsächlich verdient.

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