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Selbstbestimmtes Leben statt fremdbestimmter Zwangsschutz für Menschen mit Sinnesbehinderung

Notariatsaktspflicht für sinnesbehinderte Menschen in Österreich ist im europaweiten Vergleich ein kaum mehr übliches und überkommenes Relikt aus der "guten alten" Österreich-Ungarischen Monarchie; geplante Lockerungen auf unbestimmte Zeit vertagt.

Im 19. Jahrhundert war das gesellschaftspolitische Bild davon geprägt, dass Blindheit wohl eine der schlimmsten Behinderungen sei und blinde Menschen daher vom Staat so intensiv wie möglich zu schützen sind.

Ein solches Schutzinstrument bildete das sogenannte Notariatsaktszwangsgesetz vom 25. Juli 1871, wodurch schriftliche Urkunden über Rechtsgeschäfte unter Lebenden, die von „Blinden, von Tauben, die nicht lesen oder von Stummen, die nicht schreiben können“, geschlossen werden, nur in Form eines Notariatsaktes wirksam errichtet werden können.

Zwangsschutz eine massive Beschränkung

Natürlich war und ist dieser Zwangsschutz eine massive Beschränkung der Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung behinderter Menschen, die aus diesem Grunde auch immer wieder durch die Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderung hinterfragt und in Diskussion gezogen wurde. In weiterer Folge kam es dann auch zu zögerlichen Lockerungen dieses Zwangsschutzes.

Zuletzt enthielt der Ministerialentwurf eines Behindertengleichstellungs-Begleitgesetzes eine neuerliche Lockerung der Notariatsaktspflicht und sogar eine Befreiung behinderter Unternehmer von der Notariatsaktspflicht, die jedoch von der Notariats- und der Wirtschaftskammer massiv kritisiert wurde.

Verbände fordern Umsetzung der geplanten Maßnahmen

Die Reaktion der Behindertenvertretungen ließ dementsprechend nicht lange auf sich warten und so sprachen sich der Österreichische Blinden- und Sehbehindertenverband, die Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehbehinderten Österreichs und der Verein Blickkontakt mit Schreiben vom Februar 2006 an die Frau Justizministerin Gastinger und die Frau Sozialministerin Haubner vehement für die vollinhaltliche Umsetzung dieser geplanten Lockerungsmaßnahmen im Notariatsaktsgesetz aus.

Doch die Widerstände der Kammern blieben aufrecht, so dass die genannten Verbände unterstützt nun noch durch das Forum Gleichstellung sich Ende März 2006 mit Schreiben an die genannten Bundesministerinnen sowie die BehindertensprecherInnen und Klubchefs der Parlamentsklubs neuerlich für die Umsetzung dieses Gesetzesvorschlages als vorerst nächsten Schritt in Richtung selbstbestimmtes Leben sinnesbehinderter Menschen und als weiteren Schritt sich für die Änderung dieses Zwangsschutzes in ein frei wählbares Schutzrecht aussprachen.

Nun wurde jedoch der vorgenannte Vorschlag des Justizministeriums für eine weitere Lockerung der Notariatsaktspflicht für sinnesbehinderte Menschen mit der Ankündigung künftiger noch weiter gehender Reformen in Richtung eines Servicerechtes auf einen Notariatsakt an Stelle eines Zwangsschutzes wieder aus dem Entwurf des Behindertengleichstellungs-Begleitgesetzes herausgenommen und der Entwurf so am 6. März 2006 im Ministerrat beschlossen. Damit ist der Zug für eine Zurückdrängung dieses fremdbestimmenden Zwangsschutzes in dieser Legislaturperiode wohl endgültig abgefahren, sollte sich in dieser causa nicht im Parlament noch etwas bewegen; und wie es in Sachen Notariatsaktsgesetzreform in der nächsten Legislaturperiode weiter gehen wird, steht in den Sternen.

Man kann also festhalten, dass sich dieser fremdbestimmende Zwangsschutz aus der Monarchie in Österreich offenbar nach wie vor ziemlich hartneckig hält; Grund genug, über den österreichischen Tellerrand in die Rechtsordnungen anderer europäischer Staaten zu schauen, ob sich auch dort das gesellschaftspolitische Bild behinderter Menschen aus längst vergangenen Zeiten so nachhaltig in Form von Zwangsschutzbestimmungen wiederfindet.

Notarpflicht gibt es in fast keinem EU-Mitgliedstaat

Aus diesem Anlass startete der österreichische Repräsentant in der Europäischen Blindenunion (EBU), Dr. Markus Wolf, im Rahmen einer Tagung am 1. und 2. April 2006 eine Umfrage unter den Vertretern der EU-Mitgliedstaaten, ob auch dort derartige Zwangsschutzbestimmungen für blinde Menschen bestehen.

Das Ergebnis war erstaunlich: Eine Notarpflicht für blinde Personen, die sich von der Notarpflicht einer normal-sehenden Person unterscheidet, gibt es in fast keinem EU-Mitgliedstaat mehr.

Von den folgenden Ländern bekam Dr. Wolf die Bestätigung, dass sie diese Praxis nie hatten oder abgeschafft haben:

  • Belgien,
  • Dänemark,
  • Deutschland,
  • Estland,
  • Finnland,
  • Frankreich,
  • Griechenland,
  • Großbritannien,
  • Irland,
  • Island,
  • Italien,
  • Niederlande,
  • Portugal,
  • Schweden,
  • Zypern.

Slowenien und Ungarn haben noch ähnliche Zwangsschutzbestimmungen wie Österreich, doch beabsichtigt man dies auch in Slowenien bereits zu ändern.

Dazu resumiert Dr. Markus Wolf abschließend: „Irgendeine Notarpflicht für Blinde, die sich von einer Notarpflicht für normal-sehende Personen unterscheidet, ist abzulehnen, weil das eine Diskriminierung bedeuten würde. Blinde Personen sollen selbst die Verantwortung tragen, dass sie sich Verträge vorlesen lassen. Nur wenn hier kein Unterschied zwischen blinden und nicht-blinden Personen gemacht wird, werden blinde Personen als gleichwertige Rechtspersonen anerkannt.“

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