Franz-Joseph Huainigg

„Ich will leben“

10 Wochen am Rande des Todes, Grenzerfahrungen mit Ärzten, meine Arbeit als "beatmeter Abgeordneter" und den Unterschied zwischen einem Patienten und einem Politiker. Dieser Gastkommentar ist im Profil vom 27. November 2006 erschienen.

„Ich gelobe“, sage ich. Doch kaum jemand hört es. Im Plenarsaal herrscht ohnehin Verunsicherung über meine neue Stimme. Skeptische Blicke, neugierige Fragen und ein herzliches Willkommen. Mein Beatmungsgerät erlaubt keine lauten Worte. Fünfmal muss ich es sagen, bis es jemand mitbekommt: „Ich gelobe!“ Da nickt mir Andreas Khol in seiner letzten Sitzung als Nationalratspräsident zu. Offenbar hat er von meinen Lippen gelesen. Ich bin als Abgeordneter wieder angelobt. Und ich habe viel zu tun.

Ein seltsames Gefühl wieder hier zu sein, nach all den kritischen Wochen. Alles ist vertraut und die Situation dennoch neu: Am Tag der Angelobung trage ich Windeln im Parlament. Erst als ich eine Kollegin mit Kinderwagen sehe, ein erstes Lächeln – ich bin nicht der einzige …

Am Anfang war die Müdigkeit gewesen. Nach einer langen Plenumswoche Ende Juni mit 14-stündigen Sitzungen ist das nichts Außergewöhnliches. Die Sommerferien sollten dringend notwendige Erholung bringen. Doch nach dem Urlaub war vor dem Urlaub. Als ich zu müde zum Essen war, fuhr ich ins Krankenhaus am Rosenhügel. Nach einer Blutuntersuchung saß ich blassen Ärzten gegenüber. Ich atmete aufgrund meiner zunehmenden Behinderung so schlecht, dass ich CO2-vergiftet war, hatte rote Blutkörperchen wie jemand bei einer Mount Everest Besteigung. Und es wunderte alle, dass ich überhaupt bei Bewusstsein bin.

Eine Patientenverfügung war erforderlich, mit der ich festlege, wie und wie lange mich die Ärzte weiterbehandeln mögen, sollte ich nicht mehr Herr meiner Sinne sein. Und vor allem: ab wann sie aufhören sollten. – Diese gesetzliche Neuerung noch vor wenigen Monaten im Parlament zu diskutieren, war einfacher gewesen. Nun war ich persönlich mit heiklen Fragen überfordert: Wie weit sollen die Ärzte gehen? Dürfen sie mich über eine Sonde ernähren? … – Ich formulierte drei Wünsche: Ich will leben, ich möchte heim zu meiner Familie, und ich will wieder im Parlament arbeiten.

Dann akute Atemnot.

Ich verlor das Bewusstsein. Während Bundeskanzler Wolfgang Schüssel mich bei der ÖVP-Klubklausur als Kandidat auf der Bundesliste für die Nationalratswahl präsentierte, lag ich im künstlichen Tiefschlaf.

Am Krankenbett Besorgnis, Mitleid, Tränen. Meine vierjährige Tochter meinte: „Papa schläft, er ist sehr müde!“. Eine Sepsis, eine Lungenentzündung und viele aggressive Keime. Die Organe am Rande ihrer Belastbarkeit. Auf die Frage meiner Frau, wie es weiter geht, reagierten die Ärzte nur mit Kopfschütteln.

Der modernen Schulmedizin und der guten Pflege habe ich es zu verdanken, dass ich nach drei Wochen doch wieder erwachte. Noch halb versunken in meinen dunklen Träumen, in denen man mir nach dem Leben trachtete, war ich verwirrt und desorientiert. Einige Tage und Nächte wollte ich nicht einschlafen, da ich Angst hatte zu ersticken. Meine Frau brachte mir Sicherheit, Geborgenheit, Zuversicht.

Ein Fernsehapparat wurde ins Zimmer geschoben. Ich wollte die Elefantenrunde zum Wahlkampf ansehen. Nach einer Viertelstunde aber musste man ausschalten. Die Diskussion emotionalisierte mich derart, dass alle Alarme am Überwachungsmonitor losheulten. Den Wahlsonntag erlebte ich im Krankenhaus.

Meine Frau hatte eine Wahlkarte organisiert und wir warteten auf die fliegende Wahlkommission. Der Pfleger wollte mir das Kreuz am Stimmzettel machen. Meine Frau und ich lehnten jedoch ab. Sein Augenzwinkern sollte sagen: „Es war ja nur ein Versuch“. 17 Uhr, Sonder-„ZiB“: Gleich die erste Hochrechnung war für die ÖVP vernichtend. Die Alarme schrillten. Ein Ärzteteam rannte ins Zimmer. Ich war in Ohnmacht gefallen.

„Sprechen Sie! Es geht jetzt. Sie haben jetzt Luft!“, sagte der Stationspfleger auf der Intensivstation im Otto-Wagner-Spital. Ich würgte, gurgelte und quetschte ein paar unverständliche Laute aus meinem Hals. „Sie werden sich daran gewöhnen. Das nennt man cuffen“, beruhigte er mich. „Die Beatmungsmaschine gibt Ihnen den notwendigen Luftdruck zum Sprechen“.

Ich zweifelte daran, dass ich mit einem Loch im Hals und einem kleinen aufblasbaren Luftballon in der Luftröhre, dem sogenannten „cuff“, wieder sprechen würde können. Langsam gewöhne ich mich an die Beatmungsmaschine, ein kleines, weißes, zischendes und pfeifendes Kästchen. Sie spendet mir Leben. Und sie lebt durch mich. Ich trainiere die abgehackten Luftstöße zum Sprechen zu benützen. Die Stimme ist sehr abgebrochen und verwaschen, wird aber von Tag zu Tag deutlicher und kraftvoller. Trotzdem klingt sie mechanisch, ein wenig computerhaft.

Die Macht der Schwestern und Pfleger liegt darin, mit einem Fingerdruck auf einen Knopf meines Luftschlauchs einen Ballon aufzublasen und mich – wie einen Fernseher – gleichsam lautlos zu schalten. „So einfach ist es, einen Politiker zum Schweigen zu bringen“, denke ich mir, als ich – unfähig einen Laut von mir zu geben – im Bett lag.

Ich machte mir Gedanken, wie der Alltag als Abgeordneter nun zu bewältigen sei. Sprechen konnte ich wieder, wenngleich leise. Aber auch in der Vergangenheit habe ich so leise gesprochen, dass der Saal verstummte. Eine Seltenheit im Parlamentsleben. Früher waren nur meine Beine gelähmt, mittlerweile auch die Arme. Hinzu kommt nun eine ausgeprägte Sehbehinderung.

Geheimrezept Persönliche Assistenz

Das Geheimrezept, um den Arbeitsalltag zu bewältigen, lautet „Persönliche Assistenz“. Die Assistentinnen halten mir bei Pressekonferenzen das Mikro, wenn ihnen auch schon die Arme abfallen. Sie heben meine Hand zur Abstimmung, auch wenn sie ihre wohl nicht heben würden. Sie tippen die von mir diktierten Texte, lesen mir Gesetze vor.

Wenn ich eine Unterschrift leiste sorgt das immer für Aufmerksamkeit. Die Assistentin steckt mir einen Kugelschreiber in den Mund und hält mir das Dokument vors Gesicht. So unterzeichne ich. Auch kathetern, Essen geben, Absaugen der Kanüle, Sondenpflege, den Rollstuhl manövrieren gehört zum anspruchsvollen Job meiner Assistentinnen.

Die Bewältigung des Alltages als „beatmeter Abgeordneter“ bereitet mir weniger Sorgen als die Probleme im Krankenhaus. Schwierigkeiten habe ich derzeit beim Schlucken. „Wahrscheinlich musste ich im Leben schon genug schlucken“, mutmaße ich. Aber kein Arzt lacht. Ich bekomme Essverbot. Eine Sonde wird operativ eingeführt. Direkt in den Darm bekomme ich eine stinkende gelbliche Flüssigkeit eingeträufelt: alles was man zum Leben braucht. In den Magen werden nur Tabletten eingeworfen.

Dessen Revolte wird mit weiteren Medikamenten wettgemacht. Der Durchfall wird mit Windeln bekämpft. Alles zu meinem Besten. In der Früh, zu Mittag und am Abend rollt der Speisewagen vorbei. Während mein Bettnachbar genüsslich isst, denke ich darüber nach, dass man sogar im Gefängnis Wasser und Brot bekommt. Da fällt mir das Krankenhauserlebnis eines blinden Freundes ein. Am dritten Tag fragte er die Krankenschwester, wie lange er denn noch nichts essen dürfe. Sie antwortete: „Sie sind gut. Ich stelle Ihnen jeden Tag das Tablett aufs Nachtkästchen, da Sie es nicht anrühren, räume ich es dann immer wieder weg.“

Man darf mich nicht missverstehen. Ich wurde medizinisch und pflegerisch gut versorgt. Trotzdem muss festgestellt werden, dass der Umgang von Ärzten und Pflegepersonal mit behinderten Menschen oft zu wünschen übrig lässt. Man kommt sich entmündigt vor, wenn man wie bei einem Aufnahmegespräch im AKH schreiend mit den Worten begrüßt wird: „Tag Herr Huwenig! Sie wissen wie Sie hierher gekommen sind?!“ Ich antwortete: „Ich bin mit dem Lift in den dritten Stock gefahren – meine Beine sind gelähmt, nicht mein Hirn und meine Ohren!.“ Oft wird nicht mit dem Patienten geredet, sondern – in seinem Beisein – über ihn. Oder man wird auf ein Organ reduziert. Anlassbezogenes Beispiel: „Da liegt die Blase und füllt sich wieder“.

Auch mit dem Tod haben sich Ärzte oft wenig auseinandergesetzt. Das musste ich vor drei Jahren im AKH erleben. Mein Bettnachbar, ein alter Mann, lag seit über drei Monaten im Sterben. Ständig schrillte der Alarm des Überwachungsmonitors wegen einer anderen Fehlfunktion des Körpers. Ständig wurden neue Maschinen und Medikamente eingesetzt.

Ich dachte über mein Leben nach

Die Verwandten kamen und weinten. Der Mann hat nicht mehr reagiert und stöhnte. Vielleicht hatte er Schmerzen, vielleicht wollte er nicht mehr leben. Im medizinisch hoch spezialisierten AKH wäre eine Hospizstation sinnvoll. Ein Ort, an dem man sterben kann: betreut, in Ruhe und Würde. Und wo nicht jede medizinische Möglichkeit krampfhaft ausgeschöpft wird, auch wenn sie noch so geringe Aussicht auf Erfolg hat. Mein Bettnachbar starb schließlich doch: nachts, einsam und alleine. Nur ich lag im Nebenbett und dachte über mein Leben nach.

„Machen wir heute einen Ausflug?!“, begrüßte mich die Krankenschwester frühmorgens. Ich wurde gewaschen und gekämmt in den Rollstuhl gesetzt. Sogar die Brille bekam ich geputzt. Um den Hals wurde mir kunstvoll ein Halstuch gebunden. Nicht jeder sollte mein Tracheostoma sehen. Lediglich das Zischen aus diesem Loch im Hals war nicht aus der Welt zu schaffen.

Dann wurde der Elektrorollstuhl aufgerüstet: Beatmungsmaschine, Luftbefeuchtungsgerät, Ambubeutel und Absauger wurden hinten auf der Ladefläche aufgebaut. Und ab ging es Richtung Parlament zur Angelobung des Nationalrates. Die Oberärztin, Sylvia Hartl, begleitete mich, da meine Frau für Notfälle noch nicht genug eingeschult war.

Auf der Fahrt berichtete sie von den Problemen der 1500 beatmeten Personen in Österreich. Kinder mit einer Beatmungsmaschine werden nicht in Integrationsklassen aufgenommen, da sich niemand mit dem Gerät auseinandersetzen und die Verantwortung übernehmen möchte.

Nach Krankenhausaufenthalten gibt es Probleme mit der Pflege zu Hause: Für die nötige persönliche Assistenz fehlt es an der Finanzierung. Beatmete querschnittgelähmte Menschen erhalten keine Rehabilitationsmaßnahmen der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt AUVA. Es fehlt an Nachbetreuung und einer Tagesklinik, welche die engagierte Ärztin dabei ist aufzubauen.

Eine Liste an Forderungen und Wünschen. Ich lächelte. So redet man mit einem Politiker und nicht mit einem Patienten. Ich war wieder zurück im Leben.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich