Sigrid Arnade

Konvention mit drei Superlativen

Für Dr. Sigrid Arnade ist die von den Vereinten Nationen heute voraussichtlich verabschiedete UN-Behindertenkonvention eine Konvention mit mindestens drei Superlativen.

kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit der Behindertenrechtlerin vom Netzwerk Artikel 3 aus Berlin, die am Verhandlungsprozess für die Konvention beteiligt war, über die Konvention und ihre Einschätzung.

kobinet-nachrichten: Heute wird die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York über die „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“ (verkürzt „Behindertenkonvention“) beraten und sie vermutlich annehmen. Fünf Jahre lang wurde über den Text der Konvention verhandelt. Wie geht es Ihnen damit, dass die Vereinten Nationen (UN) heute höchstwahrscheinlich die Behindertenkonvention annehmen werden?

Dr. Sigrid Arnade: Ich bin froh, wenn die UN-Generalversammlung heute die Konvention verabschiedet. Es wird eine Konvention von mindestens drei Superlativen sein: Es ist das erste größere Menschenrechtsdokument des 21. Jahrhunderts. Zum Zweiten ist es die Konvention, die bislang am schnellsten verhandelt wurde. Den dritten Superlativ finde ich am wichtigsten: Nie zuvor wurden bei den Verhandlungen zu einer Konvention die Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) so weitgehend einbezogen. Behinderte Menschen und ihre Verbände hatten ein starkes Mitspracherecht auf allen Ebenen und wurden sehr ernst genommen.

kobinet-nachrichten: Wie bewerten Sie die Konvention aus behindertenpolitischer Sicht?

Dr. Sigrid Arnade: Diese Konvention ist ein Menschenrechtsdokument. Sie beinhaltet die soziale Sicht von Behinderung und nicht den medizinischen Defizitblick. Es ist gelungen, behinderte Menschen auf allen Ebenen als TrägerInnen unveräußerlicher Menschenrechte zu begreifen. Das ist ein großer Fortschritt, vor allem für die Menschen mit Behinderungen in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, aber auch für behinderte Menschen in westlichen Staaten.

kobinet-nachrichten: Sie haben in drei Verhandlungsrunden in New York und zwischendurch von Berlin aus dafür gekämpft, behinderte Frauen in der Konvention sichtbar zu machen. Wie erfolgreich waren Sie diesbezüglich?

Dr. Sigrid Arnade: Wir waren sehr erfolgreich. In der Konvention wurde der „Twin-Track-Approach“ realisiert. Das heißt, es wurde eine Doppelstrategie verfolgt: Zum einen gibt es einen speziellen Frauenartikel, mit dem die mehrfache Diskriminierung behinderter Frauen anerkannt wird und in dem die Staaten sich zu Gegenmaßnahmen verpflichten. Außerdem werden die Staaten durch den Frauenartikel verpflichtet, alle Artikel der Konvention unter einem frauenspezifischen Blickwinkel zu betrachten.

Durch den zweiten Teil der Doppelstrategie wurden in bestimmten Artikeln, die besonders wichtig für Frauen sind, frauenspezifische Formulierungen aufgenommen. Beispielsweise wird in dem Artikel, der sich mit Gewalt und Missbrauch beschäftigt, zur Prävention eine geschlechtersensible Assistenz gefordert. Dieser Erfolg ist übrigens ganz vielen Frauen in den NGOs und in den nationalen Regierungen sowie in den Regierungsdelegationen zu verdanken. Deutschland hat hier eine herausragende Rolle gespielt.

kobinet-nachrichten: Wird die Konvention das Leben behinderter Menschen in Deutschland verändern?

Dr. Sigrid Arnade: Hoffentlich. Nach meiner Einschätzung kann die Konvention dazu beitragen, dass niemand mehr gegen den eigenen Willen in einem Heim leben muss, dass kein Kind mehr gegen den Willen der Eltern eine Sonderschule besuchen muss und dass eine umfassende barrierefreie Gestaltung verpflichtend wird.

kobinet-nachrichten: Wann können behinderte Menschen in Deutschland das Instrument der Konvention nutzen?

Dr. Sigrid Arnade: Deutschland muss die Konvention zunächst unterzeichnen und ratifizieren. Die Konvention tritt in Kraft, wenn sie von 20 Staaten ratifiziert wurde. Die Ratifizierung soll am 30. März 2007 beginnen. Das alles kann ein längerer Prozess werden, den behinderte Menschen und ihre Organisationen begleiten und vorantreiben sollten.

kobinet-nachrichten: Danke für dieses Gespräch.

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