Barrierearm – und doch nicht gut nutzbar?

Kann es vorkommen, dass Punkt für Punkt der Accessibility-Richtlinien abgehakt und als positiv erfüllt angesehen werden und dennoch die AnwenderInnen mit einer Seite nicht gut zurechtkommen?

Braillezeile
Institut Integriert Studieren

Und wenn dies der Fall ist, liegt es ausschließlich an den unzureichenden assistiven Technologien oder der Lernresistenz der BenutzerInnen, wenn eine Seite als schlecht benutzbar eingestuft wird?

Genau wie eine Antwort vollkommen richtig sein kann und dennoch in einer bestimmten Situation nicht unbedingt hilfreich sein muss, kann es auch bei barrierearmen Webseiten vorkommen, dass trotz vieler erfüllter WAI-Kriterien der echte Nutzen für die Zielgruppen ausbleibt.

Hier nur zwei Beispiele, um zu veranschaulichen, was ich meine:

Schachpferd oder Schnitzeljagd?

Ich kenne Seiten, die mit 8 Sprungmarken beginnen, um AnwenderInnen von Screen Readern möglichst viele Navigationshilfen an die Hand zu geben. Es braucht geraume Zeit, um diesen „Sprungmarken-Dschungel“ zu durchwandern, zumal ja die Sprungmarke zum Überspringen dieser Hilfsnavigation fehlt. Die könnte man natürlich auch noch hinzufügen, wovon ich jedoch dringend abraten möchte!

Und wenn man dann endlich das Dickicht hinter sich oder eine der Sprungmarken benutzt hat, um ans Ziel, zum Beispiel den Seiteninhalt, zu gelangen, findet man dort wieder eine Sprungmarke vor, um diesen Inhalt, den man gerade gesucht hat, wieder überspringen zu können.

Diese „Schachpferd-Methode“, NutzerInnen durch eine Seite zu führen, erinnert an eine Schnitzeljagd, bei der man ständig an Kreuzungspunkte gelangt. Dort wird einem eine neuerliche Entscheidung abverlangt – eine Entscheidung, die man eigentlich längst getroffen hat.

Wen wundert es also, wenn man vor lauter Sprungmarken und Navigationshilfen die eigentliche Seitenstruktur gar nicht mehr wahrnimmt?

Wenn Hilfestellungen die eigentliche Aufgabe einer Seite in den Hintergrund drängen, wird die Beseitigung von Barrieren zu einer neuen Hürde.

Fazit: Checkpunkt erfüllt – Orientierung jedoch nicht verbessert.

Die vielköpfige Medusa

Auf einer Seite, die ich unlängst besucht habe, habe ich sage und schreibe 48 Überschriften gezählt.

Nun sind Überschriften ja eindeutig dafür da, den Seiteninhalt zu strukturieren und in Themenblöcke einzuteilen. Aber ab einer gewissen Anzahl sind diese Strukturierungshilfen eben nicht mehr vernünftig nutzbar – erst recht nicht, wenn keine nachvollziehbare Hierarchie erkennbar ist.

Andere Webrojekte weisen dafür nur eine einzige Überschrift auf, eine h1, damit man auf jeder Unter-Seite auch sicher weiß, wem der Webauftritt gehört. Aber wo sich die Navigation befindet oder der eigentliche Seiteninhalt beginnt und wie dieser unterteilt ist, muss man erst herausfinden.

Fazit: Die Checkpunkte sind formal erfüllt, aber das Ergebnis hilft kaum, sich besser zu orientieren.

Accessibility nachrüsten?

Gesetz und Richtlinien regeln nicht die Benutzbarkeit, sondern nur die Zugänglichkeit. Allerdings geht man dabei von einem Webprojekt aus, das bereits herkömmlichen Usability-Kriterien genügt. Denn wie sollte eine Webseite, die schon für die Allgemeinheit mit Mängeln behaftet ist, mit ein paar aufgepfropften „Nachrüstungen“ barrierefrei werden können?

Accessibility ist eben etwas mehr als das Einfügen einiger Sprungmarken, Überschriften oder ein paar Farbkorrekturen. Dass etliche der Checkpunkte auch ohne ordentliche Webseitenstruktur und fehlender Benutzerfreundlichkeit umgesetzt werden können, ändert daran so gut wie nichts.

Barrierefreiheit als Kreativitäts-Killer?

Mit Accessibility ist nicht gemeint, auf zeitgemäßes Design und moderne Techniken komplett zu verzichten und statt dessen „Sonderlösungen“ für Randgruppen zu schaffen. Ganz im Gegenteil: Gerade bei der Harmonisierung von Design, sinnvoller Struktur, Unternehmensphilosophie, Nutzerfreundlichkeit und Zugänglichkeit auch für behinderte Menschen ist die Kreativität aller Beteiligter aufs Höchste gefordert.

Das fragwürdige Geschick mancher Webanbieter, selbst simples HTML hart an die Zugänglichkeitsgrenze abzumagern und andererseits die – wenn auch wenigen – guten Beispiele im Netz, wo Ajax oder Flash barrierefrei angeboten werden, scheinen mir jedenfalls ein glaubwürdiges Indiz dafür zu sein, dass Zugänglichkeit und Nutzbarkeit weniger eine Frage der Technik als vielmehr des Umgangs mit derselben sind.

Die Zugänglichkeits-Richtlinien sind aus dieser Perspektive daher nicht als aufgesetztes „Zusatzprogramm“ zu verstehen, sondern als integraler Bestandteil eines Gesamtkonzepts qualitativer und damit nutzerfreundlicher Webanwendungen.

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