Radikales Umdenken müsste folgen

Menschen mit Behinderungen werden in Deutschland ausgegrenzt und in Sonderschulen abgeschoben.

Theresia Degener
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Das schreibt das deutsche Nachrichtenmagazin „Spiegel“ am 5. Jänner 2009 zum Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, „der ein radikales Umdenken folgen müsste“. Doch die Bundesregierung signalisiert, heißt es weiter in dem vierseitigen Bericht von Ulrike Demmer, alles soll so bleiben, wie es ist. Theresia Degener wird mit den Worten zitiert: „Die Bundesregierung wird sich wohl beschämt in die Ecke stellen müssen.“

Wer in Deutschland die Sonderschule besucht, habe seine Chancen auf eine akademischen Abschluss praktisch verloren, stellt die Spiegel-Autorin fest: „In dieser Schulform, die sich heute Förderschule nennt, erreichen 0,2 Prozent aller Schüler das Abitur. 77 Prozent von ihnen schaffen nicht einmal den Hauptschulabschluss. Ein Grund: Der Wechsel von der Förder- in die Regelschule findet so gut wie nie statt. Wer die Sonderschule absolviert, darf sich auf ein Berufsleben in der Behindertenwerkstatt freuen.“

Auf dem Papier scheine Deutschland als ein sehr behindertenfreundliches Land. In den vergangenen Jahren sind eine ganze Reihe wohlklingender Gesetze verabschiedet worden. Es gibt ein Behindertengleichstellungsgesetz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Sozialgesetzbuch mit der Nummer IX, ein Regelwerk, das Selbstbestimmung und Teilhabe verspricht. Auch im Grundgesetz sind die Rechte Behinderter inzwischen verankert: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteilig werden“, steht seit 1994 in Artikel 3, Absatz 3.

„Jedes einzelne dieser Gesetze hätte einen Paradigmenwechsel bedeuten können. Doch die Vorschriften blieben ein Lippenbekenntnis. Wer gegen diese Gesetze verstößt, hat kaum Sanktionen zu fürchten. Wer sich auf sie berufen will, kann seine Interessen nur selten durchsetzen“, so der Spiegel.

Das Nachrichtenmagazin weist auf Theresia Degener, Juraprofessorin, Expertin für Behindertenrecht und selbst Contergan-geschädigt, die in der Konvention einen „Meilenstein“ für Menschen mit Behinderung sieht: Das Gesetz werde eine Welle lostreten. „Erstmalig wird es einen internationalen Rechtsausschuss mit zwölf unabhängigen Experten geben, ein Überwachungsgremium, das jeder, der sich diskriminiert fühlt, anrufen kann.“ Das Gremium könne zwar kein Urteil sprechen, räumt die Juristin ein. Degener baut aber auf die Außenwirkung des Gesetzes, denn die Experten werden öffentlichkeitswirksam mit dem Finger auf die verantwortliche Regierung zeigen. „Mobilisation of Shame“ nennt die Menschenrechtsexpertin das. Die Vereinten Nationen hätten international schon gute Erfahrungen mit dieser Form der Sanktionierung gemacht. „Die Bundesregierung wird sich wohl beschämt in die Ecke stellen müssen.“

Als die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Mensche vor drei Jahren ihr Amt antrat, sei die sozialdemokratische Abgeordnete „geschockt“ gewesen: „In allen Lebensbereichen werden Menschen mit Handicap behindert und ignoriert“, urteilt Karin Evers-Meyer. In der Gastronomie etwa könne von Barrierefreiheit keine Rede sein. Kneipen mit Rampe und Behindertentoilette sind eine Seltenheit, Speisekarten in Blindenschrift gar eine Rarität. Wer als Rollstuhlfahrer ICE fahren möchte, der wird in einer peinlichen Prozedur mittels einer Hebebühne auf das Niveau des Schnellzuges gepumpt. Nur ein Bruchteil aller Fernsehsendungen wird für Gehörlose untertitelt oder in Gebärdensprache übersetzt.“

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