Am 3. Dezember 1996, also vor 20 Jahren, gründeten 13 politisch aktive Menschen mit Behinderung offiziell das Zentrum für Selbstbestimmtes Leben in Zürich.
Die freche, fulminante Eröffnungsfeier wurde im Fernsehen und den grossen Printmedien mit Erstaunen begrüsst. Während der Haupteingang für Menschen mit Behinderung reserviert war, mussten sich die eingeladenen MOBs (Menschen ohne Behinderung) über einen hohen Zaun, durch ein Wirrwarr von zusammengebundenen Stühlen zum Hintereingang durchkämpfen, an der für sie vorgesehenen Klingel läuten und dann warten, bis ihnen „gnädig“ die Türe geöffnet wurde.
Auch die Benutzung der Toilette war für MOBs nur mit Hilfe möglich. „Das Personal hilft gerne“, stand in der Einladung. Statt zur Eröffnung vor den Kameras feierlich ein rotes Band zu zerschneiden, wurde eine rotweiss gestreifte Barriere zersägt.
Das Team des Zentrums definierte sich von allem Anfang an durch den Aufstand gegen die bestehenden Strukturen, welche Menschen mit Behinderung als passive, „arme dumme Tschuseli“ wohltätig verwahrten und bevormundeten.
Der weltweit durch Betroffene voran getriebene Paradigmenwechsel musste auch in der Schweiz erkämpft werden: vom armen versorgten Krüppel und Kosten verursachenden Objekt der Caritas, zum vollumfänglich gleich berechtigten, mitverantwortlichen und mitgestaltenden Bürger bzw. zur Bürgerin.
Das ZSL verstand sich als radikale Vorhut mit der Aufgabe, auf politischem Wege bestehende Betonmauern und Zugangsbarrieren mit klaren Konzepten, dem Wissen der eigenen Erfahrung, Witz, Provokation und subversivem Einsatz der limitierten Kräfte zu durchbrechen.
Die zentrale Forderung der Selbstbestimmt Leben Bewegung, dass alle Gelder im Behindertenbereich in die Hände der Betroffenen selbst und nicht in die Säcke ihrer professionellen Bevormunder gehören, zielte auf die Fundamente der bestehenden Versorgungsindustrie.
Im Lauf der vergangenen 20 Jahre starben fast ein Drittel der ursprünglichen GründerInnen an den Folgen ihrer schweren Beeinträchtigung. Andere fanden bezahlte Stellen in anderen Organisationen und brachten dort ihre ZSL Erfahrungen und die Selbstbestimmt-Leben-Philosophie ein.
Wieder andere gründeten eigene, erfolgreiche Organisationen, um sich auf Teilaufgaben im sehr breiten Spektrum der Behindertenpolitik zu spezialisieren. Ein paar wenige gründeten Konkurrenzunternehmen mit den selben Zielen, um zu beweisen, dass sie es noch besser können. Immer wieder kamen kämpferisch Gesinnte dazu.
Einige wie z.B. die heutige Präsidentin der Genossenschaft, Eva Schulthess, blieben dem ZSL während beiden Jahrzehnten treu und leisteten tausende von ehrenamtlichen Stunden. Auch der später zur finanziellen Unterstützung des ZSL gegründete Förderverein mit anfänglich über 200 Mitgliedern leistete gemeinsam mit einigen GrossspenderInnen einen wesentlichen Beitrag. Insgesamt darf man behaupten, dass das ZSL den Behindertenbereich nicht nur als Vorhut immer wieder vorwärts drängte, sondern auch durch die ungefähr 50 Betroffenen. die da ein Handwerkszeug bekamen und wieder gingen, inspirierte.
Der Abbau der Barrieren im öffentlichen Verkehr (SBB, kantonale ÖV-Betreiber, SWISS damals SWISSAIR), die Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“, das Behindertengleichstellungsgesetz BehiG, die Gleichstellungsparagrafen in den kantonalen Verfassungen, die Referenden gegen unberechtigte Kürzungen der IV-Leistungen, Vorstösse zur Verbesserungen in der IV-Gesetzgebung und, sozusagen als Krönung, die Möglichkeit SPITEX während Jahren zuhause zu erhalten, die Erhöhung der Hilflosenentschädigung, die Einführung der Ergänzungsleistungen für die Pflege zuhause, und die Einführung des Assistenzbeitrags sind alles Entwicklungen, an denen das ZSL massgeblich, oft führend beteiligt war.
All diese Entwicklungen, die vor 20 Jahren noch als ferne Ziele, als unmögliche Utopien galten, wurden mit der Unterzeichnung der UNO-Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz im Frühling 2014 vollends bestätigt.
Ein ganz besonders glänzender Kranz muss an dieser Stelle Katharina Kanka, Mitgründerin und viele Jahre stellvertretende Geschäftsleiterin des ZSL, später Gründerin und Leiterin von FassiS gewunden werden. 1997 vertrat sie das ZSL in einer Arbeitsgruppe des Bundesamtes für Sozialversicherungen zum Thema „neue Finanzierungsmodelle im Pflegebereich“.
Mit unglaublicher Hartnäckigkeit und Fleiss vertiefte sie sich in alle Aspekte dieses Bereichs und wurde bald zu DER Spezialistin, die von allen politischen Seiten konsultiert werden musste, weil niemand ihr punkto Wissen und Gradlinigkeit das Wasser reichen konnte. Sie war die Architektin des „Assistenzbeitrags“ der Invalidenversicherung und wurde – einmalig für die Schweiz – von den GesundheitspolitikerInnen aller Parteien respektiert und unterstützt.
Nun, 20 Jahre später, darf man zum Schluss kommen, dass das ZSL all seine ursprünglichen Ziele, mindestens was die Akzeptanz der grundsätzlichen Ideen und deren Festlegung in den Gesetzen anbelangt, erreicht hat. Die Umsetzung dieser Vorgaben in die gelebte Realität wird noch mindestens eine Generation lang immens viel Kleinarbeit und sicher da und dort auch harte politische Kämpfe verlangen.
Klaudia Karoliny
05.01.2017, 09:35
Gratulation dem ZSL Zürich zu euren Erfolgen und euren 20-jährigen Einsatz sowie weiterhin viel Kraft!