2010: Das Jahr der politischen Armseligkeit

Ein persönlicher Rückblick auf das politische Jahr in Österreich am Beispiel des Pflegegeldes. Ein Kommentar.

Flagge Österreich
BilderBox.com

Die Europäische Union beschloss, das Jahr 2010 zu nutzen, um Armut und soziale Ausgrenzung zu bekämpfen. Laut Statistik Austria sind in Österreich rund 1 Million armutsgefährdet; viele davon behindert.

„Soziale Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung fußt häufig in der Unmöglichkeit, am normalen gesellschaftlichen Leben und an den Marktprozessen teilzuhaben“, ist dem Bericht „Armutslagen und Chancen für Eingliederung in Österreich“ der Statistik Austria vom Oktober 2009 zu entnehmen.

Was ist in Österreich passiert?

Nun stellt sich die Frage, was ist in Österreich im „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ verbessert worden.

Das Ergebnis ist beschämend. Selbst die Vereinheitlichung der Sozialhilfe – im Politsprech „bedarfsorientierte Mindestsicherung“ – wurde zu einer großen Enttäuschung. Weder ist sie in der Höhe eines notwendigen Mindesteinkommens, noch ist sie – und das war ja das Ziel – österreichweit einheitlich. In manchen Bundesländern wurde sie noch nicht ein mal ausbezahlt.

Behinderung

Die EU hat für das Aktionsjahr auch die Bekämpfung der Ausgrenzung von Gruppen – namentlich auch von „Menschen mit Behinderungen“ – als Ziel definiert.

Im Jänner erfuhr man in einer BMASK-Informationsbroschüre, dass das Pflegegeld eine aktuelle, „bereits wirksame Maßnahem der Bundesregierung zur Armutsbekämpfung“ ist, was leicht nachvollziehbar ist. Wer Pflege benötigt und das mit dem eigenen Geld bezahlen muss, ist massiv armutsgefährdet.

Im Jahr 2010 finanziert das Sozialministerium auch einen Informationstag „Behinderung, Armut und soziale Ausgrenzung“.

Was passierte dann?

Langsam wurde klar, dass die Bundesregierung ein großes Sparpaket plant. Die politischen Streitigkeiten zwischen SPÖ und ÖVP begannen.

„Wenn nun die ÖVP eine umfassende Debatte über unser Sozialsystem beginnt, stellt sich die Frage, was ist ihr Ziel? Will die ÖVP zur Sanierung des Budgets Familienbeihilfen und Pflegegeld kürzen?“, fragt SPÖ-Sozialsprecherin Renate Csörgits am 18. Jänner 2010.

Welch prophetischer Satz! Was die SPÖ-Sozialsprecherin – und wahrscheinlich auch sonst niemand – ahnen konnte, war, dass die treibende Kraft hinter den massiven Kürzungen beim Pflegegeld (immerhin rund 314 Millionen Euro in vier Jahren) der Sozialminister sein würde – der pikanterweise auch von der SPÖ kommt.

Die Fakten

Die im Dezember beschlossenen Änderungen bedeuten, dass von 60.000 Pflegegeld beantragenden Personen 24.000 keine, oder nur mehr die Hälfte an Unterstützung bekommen.

Nicht nur die Überalterung der Bevölkerung verursacht Mehrkosten, wirklich dramatisch ist die aufgeblähte Verwaltung, meint etwa der Rechnungshof.

„Das Geld, das eingesetzt wird, kommt nicht beim Bürger an. Beim Pflegesystem wird nicht der Pflegebedürftige, sondern das System versorgt“, meint Rechnungshof-Chef Josef Moser. (Für die Administration beim Pflegegeld sind 280 Stellen zuständig!)

Der Minister und seine Pläne

Wer nun glaubt, dass der Minister bei der Verwaltung einspart, irrt gewaltig. Zuerst sickern im August Pläne des Ministeriums durch, Pflegegeldstufen zur Gänze zu streichen.

Doch zu dem damaligen Zeitpunkt war man in der Bundesregierung übereingekommen, vor den Landtagswahlen in der Steiermark und Wien keine Details über das Sparpaket zu veröffentlichen und nahm damit auch bewusst in Kauf, das Budget verfassungswidrig spät erst dem Parlament zur Beratung zu übergeben.

Doch die Zwischenzeit wurde genutzt. Die SPÖ startete eine Missbrauchsdiskussion beim Pflegegeld. Selbst Fakten, wie die rund 17.000 Überprüfungen des Sozialministeriums, bei denen nur zu 0,03 % (!) ein Missbrauch festgestellt wurden, hielten die SPÖ von ihrer Kampagne nicht ab. (Siehe auch Interview mit Originalton)

Nachdem diese Diskussion wieder abflachte, kam der nächste Schlag. Das Entsetzen war groß, als bekannt wurde, wie massiv die Kürzungen im Pflegegeldbereich ausfallen werden.

Gleichzeitig wurde eifrig verhandelt, wie man Sachleistungen (Heimhilfe – meist von parteinahen Hilfsorganisationen erbracht) ausbauen könnte. Der Minister sagte unumwunden, dass „eine zukünftige Pflegegeldregelung sachleistungsorientiert sein muss“.

Proteste erfolglos

Als „Begleitmusik“ gab es vom Minister Aussagen wie: Man gebe nur „weniger mehr aus“ und sei ohnehin „Pflegegeld Weltmeister“ und die Kürzungen seien „moderat“ oder: Man habe nur den „Zugang zum Pflegegeld verflacht„. Diese Aussagen waren für viele „inakzeptabel“ und sie sahen Hundstorfer rücktrittsreif.

Die behindertenfeindlichen Äußerungen und Taten von Sozialminister Hundstorfer riefen eine Vielzahl von Protesten und Demonstrationen hervor. Selbst Parteikollegen rieten ihm, das Pflegegeld zu erhöhen.

Doch es half leider nichts, der Minister zog seine Pläne beinhart durch. Taktisch geschickt wurde zur Ablenkung für die Öffentlichkeit die Pflegestufe 6 minimal (um 18 Euro!) erhöht. Das sind rund 1,5 % und damit weniger als die Inflation. Im Gegenzug wurden die 318 Millionen Euro Einsparungen immer mit dem Satz erklärt, dass man dafür die Stufe 6 erhöht hat. Welch ein Hohn.

Und die ÖVP?

Lange Zeit hielt sich die ÖVP zurück. Sie stichelte immer wieder und hinterfragte die eine oder andere Sozialleistung. Manches Mal trat ein christlich-sozialer Politiker wie beispielsweise der ehemalige Nationalratspräsident Khol auf. Auch der ÖVP-Behindertensprecher Huainigg meinte: „Einsparungen im Pflegebereich sehe ich nicht„.

Doch ÖVP-Vizekanzler und Finanzminister DI Josef Pröll gab am 18. Oktober 2010 – eine Woche nach der noch abgewarteten Landtagswahl in Wien – die neue Linie vor und hielt im ORF-Interview unmissverständlich fest: Es geht nicht um soziale Gerechtigkeit, sondern darum das Land wieder ins Lot zu bringen.

Eine bemerkenswerte Aussage für den Chef der christlich-sozialen Partei in Österreich. Die ÖVP war also um keinen Deut besser als die SPÖ und schlussendlich forderte Huainigg sogar die Aberkennung von Pflegegeld, „wenn kein wirklicher Pflegebedarf vorliegt“ (den vorher aber ein Arzt bestätigt hatte) – es war echt widerlich.

Alles schlecht?

Nein, die Zeitungen anerkannten, dass die ÖVP und SPÖ ihre Kernwähler (Arbeiter, Wirtschaft, Bauern usw.) beim Sparen möglichst verschonten. Gruppen ohne großer Lobby (Studierende, behinderte und/oder pflegebedürftige Menschen, Entwicklungshilfe, usw.) müssen dafür überdurchschnittlich zur Sanierung beitragen.

Der richtige Begriff

Der Begriff „Armseligkeit“ wird mit „erbärmlich, jämmerlich, unzureichend“ erklärt. Aus meiner Sicht war in Österreich daher 2010 nicht das „Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“, sondern das „Jahr der politischen Armseligkeit“.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich