30 Jahre Peer Beratung. Eine Szene

Mein Text "30 Jahre Peer Beratung. Eine Szene“ beim Fest am 1. Juni 2022 anlässlich 30 Jahre Peer Beratung durch BIZEPS gemeinsam vorgetragen mit Cornelia Scheuer.

Cornelia Scheuer und Erwin Riess lesen: 30 Jahre Peer Beratung. Eine Szene
BIZEPS

Erwin: Liebe Conny! Immer wieder stoße ich in Gesprächen mit SozialpolitikerInnen und WissenschaftlerInnen auf ein tief sitzendes Unverständnis der Independent Living Bewegung.

Conny: Mir ergeht es ebenso.

Erwin: Was ist der zentrale Kern der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung?

Conny: Unzweifelhaft die Peer-Beratung in all ihren Dimensionen. In der alten paternalistischen oder bevormundenden Behindertenpolitik mit all ihren verkrusteten Vereinen, die auf hunderterlei Wegen mit der Parteipolitik verbunden sind, ist der behinderte Mensch OBJEKT der Politik, mit ihm und AN ihm wird Politik gemacht. Die Independent Living Bewegung ist die weltweit anerkannte Emanzipationsbewegung behinderter Menschen. In ihr ist der behinderte Mensch aber SUBJEKT der Politik – er entscheidet selbst über seine Lebensform.

Erwin: Das ist das ideale Ziel.

Conny: Freilich. Es gibt im Grad der Selbständigkeit Abstufungen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass auch die nichtbehinderten Menschen in modernen Gesellschaften Einschränkungen ihrer Selbstbestimmung unterliegen.

Erwin: Am Arbeitsplatz, in den Fragen von Bildung, Wohnen, politischer Vertretung …

Conny: Der Kampf um Autonomie und Selbstbestimmung muss mit allen Waffen geführt werden, die uns zur Verfügung stehen: Wissen, Erfahrung, Konsequenz, Unbestechlichkeit. Manchmal müssen wir zivile Gewalt anwenden wie im Falle von Demonstrationen und Hungerstreiks, Ministerbüro – und Parlamentsblockaden. Manchmal ist es aber auch angebracht, mit List und Schlauheit zu agieren.

Erwin: Im Kern unserer Politik steht immer der Satz: Nothing about us without us. Was in den Ohren vieler nichtbehinderter Menschen als radikal ja revolutionär klingt, ist für viele Sektoren der Gesellschaft aber seit über hundert Jahren eine Selbstverständlichkeit. Eine allgemein anerkannte Geschäftsgrundlage.

Conny: Uns will man diese Geschäftsgrundlage aber nicht gewähren.

Erwin: Weil wir uns in Dinge einmischen, die UNS angehen. Weil wir es niemandem, auch nicht dem freundlichsten Politiker oder der zuvorkommendsten Politikerin erlauben, uns gesellschaftlich und politisch zu entmündigen.

Conny: Obwohl … seit einigen Jahren müssen wir feststellen, daß der Grundsatz der Selbstvertretung, des Expertentums in eigener Sache, wieder in Frage gestellt wird. Die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2008 ..

Erwin: Sie wurde vom damaligem Sozialminister Buchinger in New York als erster Staat der Welt unterzeichnet …

Conny: Ja, weil Austria im Alphabet an erster Stelle steht!

Conny: … aber in der Umsetzung sind wir in etlichen Fragen wie der Abschaffung von Sonderschulen, der Barrierefreiheit oder der politischen Repräsentation bestenfalls europäischer Durchschnitt.

Erwin: Ja, das ist der Fluch des Hauses Österreich: Auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben.

Conny: Das hast du schön gesagt!

Erwin: Der Satz ist nicht von mir, sondern aus „König Ottokars Glück und Ende“ von Franz Grillparzer. Der Herr Archivdirektor kannte seine Pappenheimer.

Conny: So gesehen dürfen wir uns nicht wundern, dass sich seit zweihundert Jahren die heimische Welt in vielen menschlichen Hauptfragen im Kreise dreht.

Erwin: Zwar gibt es da und dort fortschrittliche Gesetze …

Conny: Aber diese werden viel zu oft von einer renitenten und missgünstigen Beamtenschaft in der gesetzlichen Praxis ins Gegenteil verkehrt.

Erwin: Was soll man da machen? Peer Beratung nutzt bei diesen Herrschaften auch nicht.

Conny: Da bin ich mir nicht so sicher. Man sollte diesen Herrschaften einmal vor Augen führen, dass die Anleitung und Beratung von Gleichgestellten politisch und menschlich eine großartige Sache ist.

Erwin: Man sollte ihnen klar machen, dass ein Gärtner im Parlament nicht von einem Lawinensprecher vertreten werden will, ein Schwarzgeldgauner nicht von einem Steuerfahnder, eine Notärztin nicht von einem Bierzusteller und eine Universitätsprofessorin für Verwaltungsrecht nicht von einem rechtsradikalen Spediteur.

Conny: Wie sollen wir das erreichen, wenn selbst die Grünen, die immer selbst betroffene Behindertensprecher im Nationalrat hatten, jetzt davon abgegangen sind? Sie haben uns schnöde verraten.

Erwin: Und die große und stolze österreichische Sozialdemokratie hat es in all den Jahrzehnten NIE zustandegebracht, einen oder eine selbst betroffene Behindertensprecher – oder Sprecherin ins Hohe Haus zu entsenden. Das ist kein Zufall, sondern eine bewusste Diskriminierung behinderter Menschen. Eine Form von politischer Gewalt.

Erwin: Sie trauen es uns nicht zu, dass wir für uns selber sprechen.

Conny: Sie leugnen, dass wir die Experten in eigener Sache sind und nicht sie.

Erwin: Der Versuch uns zu entmündigen, ist so alt wie die Politik selbst. Und dennoch gehen und rollen wir unserer Wege.

Conny: Wir aber sind gekommen um zu bleiben. Wir helfen und beraten einander so gut es irgendwie geht. Und das seit dreißig Jahren.

Erwin: Mit Verlaub, das ist eine großartige Leistung der Kolleginnen und Kollegen.

Conny: Wir machen einen guten Job.

Erwin: Und werden dabei nicht müde?

Conny: Doch. Manchmal sind wir zu müde um uns auszurasten.

Erwin: Oft vergessen wir auf uns selber. Wir haben soviel zu tun. Es gibt so vieles, das kein anderer, keine offizielle Behindertenorganisation, keine Kirche und keine Gewerkschaft anpackt. Vieles können nur wir. Das ist unsere Schwäche.

Conny: Und gleichzeitig unsere Stärke.

Wir danken für die Aufmerksamkeit.

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