Im Jahr 1984 wurde die Entmündigungsordnung durch das Sachwalterrecht ersetzt. Grund genug, einen Blick zurück und einen Blick nach vorne zu wagen. Ein nachdenklicher Kommentar.
Die Veranstaltung „30 Jahre Sachwalterrecht – Vertretung und Selbstbestimmung: ein Widerspruch?“ am 21. Oktober 2014 in Wien war sehr gut besucht, vor allem von RechtsanwältInnen, SachwalterInnen – allerdings von sehr wenigen SelbstvertreterInnen.
Es war eine Art Geburtstagsfest für ein Gesetz, von dem man sich damals große Fortschritte erwartete und an dem Sachwaltervereine in der Umsetzung in den letzten drei Jahrzehnten intensiv mitgearbeitet haben.
Naturgemäß freuten sich Vertreter der Sachwaltervereine, Prim. Rainer Gross (NÖLV) und Prof. Gerhard Hopf (VertretungsNetz), über das in der Vergangenheit Erreichte und hoben hervor, wo ihrer Meinung nach deutliche Verbesserungen erzielt worden waren. So weit so schön. Spannend wurde es aber wenn man genau hinhörte.
Brandstetter: „Wir müssen wegkommen von der allzu frühen Bevormundung“
Justizminister Dr. Wolfgang Brandstetter (ÖVP) dankte zuerst den Sachwaltervereinen für ihre Arbeit und ging dann auf die nun seit Jahren vehement geübte Kritik am Sachwalterrecht und seinen Auswüchsen ein.
Auch die im Jahr 2008 von Österreich ratifizierte UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen schreibt eine Neuausrichtung vor. Die Staatenprüfung Österreich im September 2013 vor der UNO hat dies nochmals bestätigt, das wurde allerdings nicht erwähnt.
Die Frage „Muss Vertretung der Selbstbestimmung widersprechen?“ beantwortet der Justizminister mit: „Nein“ – leider ohne seine Gedanken genauer darzulegen.
Kritisch sieht er hingegen die hohe Anzahl an Sachwalterschaften in Österreich. Durch Clearing soll die Zahl der Sachwalterschaften reduziert werden. „Wir müssen wegkommen von der allzu frühen Bevormundung“, erläutert er und führt aus: „Sachwalter wird es immer geben müssen“ – „aber nicht in so vielen Fällen.“
„Die Weiterentwicklung des Sachwalterrechts lebt von den Vereinssachwaltern“, so der Justizminister bei der Festveranstaltung. Man werde das Sachwalterrecht reformieren, kündigt er an. „Wir müssen Menschen mit Behinderungen mehr zutrauen“, streicht Justizminister Brandstetter hervor und ergänzt: „Mir ist wichtig, Betroffene einzubeziehen.“
Dass dies keine hohle Phrase ist, ist anzuerkennen und zeigt sich an der bisherigen Partizipation von Selbstvertreterinnen und Selbstvertretern bei Arbeitsgruppen im Justizministerium. Das erwähnte er zwar nicht, aber ich tue es hier gerne.
Helige: „Sachwalterschaft ist gut gemeint, aber nicht gut genug“
Die Richterin Dr.in Barbara Helige (Präsidentin der Österreichischen Liga für Menschenrechte), griff in ihrem Vortrag – nach einer Würdigung der Arbeit der Sachwalterinnen und Sachwalter – einige Problemfelder auf.
Auch sie verwies auf die damalige Entmündigungsordnung und den Fortschritt, der mit dem Beschluss des Sachwalterrechts angestoßen wurde.
Und wie sieht die Praxis aus? „Die Sachwalterschaft wird als Entmündigung erlebt und sie entmündigt auch“, berichtet Helige von ihren Erfahrungen und meint: „Auch wenn wir Sachwalterschaft nicht so nennen, ist es eine Entmündigung.“
Es sei klar, dass „Sachwalterschaft einen ganz tiefen Eingriff in Persönlichkeitsrechte bedeute“, so die Richterin, die kritisch anmerkt, dass das Sachwalterrecht „sehr paternalistisch und sehr auf Fremdbestimmung getrimmt“ sei.
Ihr Resümee: „Die Sachwalterschaft ist gut gemeint, aber nicht gut genug.“ Auch wenn sie skeptisch ist, dass es weniger Sachwalterschaften werden, sollten es doch bessere werden, hofft sie und empfiehlt: „Es ist notwendig, Sachwalterschaft so gering wie möglich zu halten.“
Fuchs: Heute doppelt so viele
Eine Reihe von statistischen Ergebnissen präsentierte Dr. Walter Fuchs vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie. Er zeigte auf, dass im Osten Österreichs häufiger zum Instrument der Sachwalterschaft gegriffen wird, als im Westen und machte deutlich, wie unterschiedlich die Gründe für Sachwalterschaft sind (Demenz, Lernschwierigkeiten, …).
Erschreckend – wenn auch bekannt – folgendes Faktum: „Es gibt heute mehr als doppelt so viele Sachwalterschaften wie damals Entmündigungen“, so Fuchs. Österreich hebt sich da auch negativ von Deutschland und der Schweiz ab.
„Sachwalterschaft sollte das letzte Mittel sein, wird aber oft vorschnell, unreflektiert eingesetzt. Insbesondere die Tatsache, dass über die Hälfte aller Sachwalterschaften für alle Angelegenheiten ausgesprochen werden, ist ein Skandal“, wird Peter Schlaffer, Geschäftsführer vom VertretungsNetz, dazu in den Tagungsunterlagen zitiert.
Podiumsdiskussion: Sachwalterschaft wohin?
Um die Zukunft ging es in der rund einstündigen Diskussion „Sachwalterschaft wohin?“, an der u.a. Dr. Georg Kathrein (Sektionschef im Justizministerium) und Lucia Vock (Selbstvertreterin) am Podium teilnahmen.
„Wir sind international so schlecht nicht aufgestellt“, meint der Sektionschef und ergänzt aber: „Wir müssen überlegen, wie wir die Anforderungen der Konvention besser berücksichtigen.“ Trotz guter Ansätze im Gesetz gibt es nun allerdings Probleme. „Das Sachwalterrecht ist Opfer seines eigenen Erfolgs geworden.“ – Daher werden jetzt zu viele SachwalterInnen bestellt.
Aber auch tiefergehende grundsätzliche Überlegungen äußert der Sektionschef: „Der Schutzgedanke des Sachwalterrechts kommt sehr paternalistisch daher.“ Auch die Gesellschaft müsste sich ändern: „Viel hängt davon ab, dass man ohne Vorurteile auf die Menschen zugeht.“
Sehr klar und deutlich hält Lucia Vock (Selbstvertreterin) ihre Anliegen fest. „Man muss mehr SelbstvertreterInnen fragen, statt Vermutungen anstellen“, sagt sie und spätestens zu diesem Zeitpunkt fällt auf, dass bei dieser Veranstaltung kaum Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter anwesend sind.
„Wie viele Menschen kommen mit den Dingen des Lebens nicht zurecht und bekommen keinen Sachwalter?“, fragt sie und zeigt damit auf, wie unterschiedlich behinderte und nichtbehinderte Menschen behandelt werden. Konkret fordert sie: „Die Notwendigkeit einer Sachwalterschaft muss vom Gericht viel öfter überprüft werden!“ Persönlich hat sie es geschafft, ihre Sachwalterschaft nach 25 Jahren wieder los zu werden.
In der Publikumsdiskussion wies Frau Strauß-Seigner darauf hin, dass „diffuse Ängste oft Haftungsfragen auslösen“. Dr.in Marianne Schulze (Vorsitzende des Monitoringausschusses auf Bundesebene) widerspricht dem Glauben, dass das heutige Sachwalterrecht der UN-Behindertenkonvention entspricht und verweist auf die Empfehlungen, die die Republik Österreich vom zuständigen Fachausschuss der UNO im Rahmen der Staatenprüfung erhalten hat.
Eine kleine Zeitreise
„Stellen Sie sich vor, wir schreiben das Jahr 2020. Erstmals seit 35 Jahren ist die Gesamtzahl der Sachwalterschaften deutlich zurückgegangen. Dies ist auf konsequente Clearing- und Clearing Plus/Unterstützung zur Selbstbestimmung – Aktivitäten der Sachwaltervereine sowohl für neu angeregte als auch für bestehende Sachwalterschaften zurückzuführen“, leitet Dr. Peter Schlaffer von VertretungsNetz zum Abschuss der Veranstaltung über.
Er führt das Gedankenexperiment wie folgt fort: „Zu diesem Rückgang beigetragen haben die von den Sachwaltervereinen initiierte Befristung der Sachwalterschaften sowie das obligatorische Clearing und die Verfahrensvertretung durch VereinssachwalterInnen, die mit dem Sachwalterrechtsänderungsgesetz (SWRÄG 2016) eingeführt wurden.“
Auch die Bundesländer nehmen „ihre Verantwortung wahr, vielfältige Unterstützungsformen auf regionaler Ebene zur Verfügung zu stellen, sodass die Zuständigkeit der Justiz und damit des Rechtsinstitutes der Sachwalterschaft erst dann zur Anwendung kommt, wenn all diese Formen der Unterstützung nicht ausreichen.“
Und was passiert wenn das nicht reicht? „Nur dann erfolgt eine qualitätsgesicherte und an den Bedarfen und Bedürfnissen der Mandanten ausgerichtete, befristete Unterstützung durch das Rechtsinstitut der Sachwalterschaft. Übrigens, die Sachwalterschaft für alle Angelegenheiten wurde mit dem SWRÄG 2016 abgeschafft“, sinniert Dr. Peter Schlaffer abschließend.
Fazit?
Die Vision von Peter Schlaffer ist insoweit erstrebenswert, als der vielfach unwürdige jetzige Zustand – der auch im Sachwalterrecht abgebildet ist – teilweise überwunden wird.
Gleichzeitig würde es aber auch bedeuten, dass vom grundsätzlich von der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen geforderten Paradigmenwechsel wenig umgesetzt worden wäre. Das Prinzip des Rechteentzugs und der Fremdbestimmung wäre noch immer Standard im Sachwalterrecht, obwohl die Konvention Selbstbestimmung als erstes Grundprinzip festschreibt.
Es bleibt zu hoffen, dass die Zukunft doch ein wenig anders aussieht. Wie genau? So schwer ist das nicht, die UNO hat das Österreich im Rahmen der Staatenprüfung im September 2013 in der Handlungsempfehlung (Nummer 28) klar und deutlich aufgeschrieben.
Hier nochmals der Text des UN-Fachausschusses (Komitee):
„Das Komitee empfiehlt, dass die fremdbestimmte Entscheidungsfindung durch unterstützte Entscheidungsfindung für Menschen mit Behinderungen ersetzt wird.
Das Komitee empfiehlt Österreich, mehr zu unternehmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu unterstützter Entscheidungsfindung haben und nicht unter Sachwalterschaft gestellt werden.
Das Komitee empfiehlt, dass das System unterstützter Entscheidungsfindung die Autonomie, den Willen und die Präferenzen der Person respektiert und in voller Übereinstimmung mit Artikel 12 der Konvention ist, einschließlich der Ausübung seiner/ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit, dem individuellen Recht, eine Einverständniserklärung nach Aufklärung zu medizinischen Behandlungen zu geben und zurückzuziehen, Zugang zur Justiz zu haben, zu wählen, zu heiraten und zu arbeiten sowie einen Wohnort wählen zu können.
Das Komitee empfiehlt ferner, dass Behindertenorganisationen in alle Aspekte des Pilotprojekts für unterstützte Entscheidungsfindung eingebunden werden.
Das Komitee empfiehlt dem Vertragsstaat ebenfalls, in Absprache und Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen und ihren repräsentativen Organisationen, auf Bundesebene, Landesebene und regionaler Ebene Schulungen über die Anerkennung der Rechtsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen und die Mechanismen unterstützter Entscheidungsfindung für alle Akteure zur Verfügung zu stellen, einschließlich Beamter und Beamtinnen, Richter und Richterinnen sowie Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen.„
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