60 von Hundert

Tick  tack  tick  tack - „Ihr Sohn wird keine normale Schule besuchen können“, sagt die Psychologin lapidar, nachdem sie ihn drei Wochen lang getestet hat. Die Uhr im Ambulatorium für Entwicklungsdiagnostik tickt. Lauter als sonst. Ich habe zwei Minuten Zeit, noch etwas zu sagen. Ich sage nichts.

60 %
Pete Linforth

Tick  tack  tick  tack

„Ihr Sohn wird keine normale Schule besuchen können“, sagt die Psychologin lapidar, nachdem sie ihn drei Wochen lang getestet hat. Die Uhr im Ambulatorium für Entwicklungsdiagnostik tickt. Lauter als sonst. Ich habe zwei Minuten Zeit, noch etwas zu sagen. Ich sage nichts.

Keine normale Schule. Tick.

Kein normales Kind. Tack.

Kein normales Leben. Tick.

Scheiße. Tack.

MCD

ADHS

Minimale Cerebrale Disfunktion

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperkinetisches Syndrom

Wahrnehmungsstörungen

Autistische Züge

Umleitungen im Gehirn

Wir haben keinen Albert Einstein erwartet. Kinder, die mit sechs noch nicht wissen, wie viel eins und eins ist, werden selten Nobelpreisträger.

Wir haben keinen Hermann Meier erwartet. Kinder, die mit sechs keine Kerze ausblasen und noch nicht auf einem Bein stehen können, werden selten Olympiasieger.

Was wir erwartet haben?

Ein ganz normales Kind. Eins, das so schön und so klug ist wie die Mama und so stark und so geschickt wie der Papa. Eins, das viele Freunde hat, die zum Geburtstag kommen, das in der Fußballschülerliga kickt und verschmitzt vom Maturafoto lächelt.

„Was genau hat er eigentlich?“, werde ich – auch heute noch – immer wieder gefragt. Als würden Diagnosen irgendetwas über ihn erzählen. „Einen Traktor“, sage ich, „Und ein bisschen was von Monk.“

„Grad der Behinderung: 60 von Hundert“, steht im Bescheid vom Finanzamt.

„Und dann prägt dir einer diesen Stempel auf die Stirn …“, singt Konstantin Wecker, nur richtig „der die Wege, die du gehen’ wirst, bestimmt.“

Die Finanzbeamtin weiß nicht, dass ich mich Nachts in den Schlaf heule.

Die Psychologin ahnt nicht, dass ich das Gefühl habe, als Mutter versagt zu haben.

Die Schuldirektorin hat keinen Schimmer, dass die starke, stolze Frau, die da vor ihr steht und wie eine Tigerin kämpft, sich schwach und hilflos fühlt.

ADHS steht auf dem Stempel auf der Stirn meines Sohnes.

Auch Du Hast Schuld, lese ich.

Auf Der Hut Sein! denn

Andere Denken Herzlich Selten.

Es heißt Abschied nehmen. Abschied von Illusionen. Abschied von Träumen. Abschied von einem Stück Perfektion, das es nicht gibt.

Tick  tack  tick  tack

Zwei Jahre später.

Ein anderer Arzt. Mein anderes Kind. „Ihre Tochter hat Tourette-Syndrom.“ Wir sind in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung des Krankenhauses. Mein Kind tict. Lauter als sonst. Ich schlucke und schweige.

„Ich habe Tics, aber sie haben mich nicht“, sagt meine Tochter, wenn andere Kinder sie fragen, warum sie so zuckt. Und Worte ups sagt, die ups ganz bestimmt nicht ups an dieser Stelle ups in den Satz ups gehören.

„Tics so wie Tixo?“, fragt ein Kind.

„Das ist so ähnlich wie Schluckauf, nur im Gehirn“, erklärt sie der Verkäuferin, die ihr kein Kipferl geben will, weil sie nicht aufhört, den Kopf zu schütteln.

„Sagt sie auch ständig so Worte wie Ficken und Fotze?“, fragt mich die geifernde Nachbarin.

„Nur, wenn sie es meint“, sage ich.

„Fick dich, du Fotze“, denke ich.

„Grad der Behinderung: 60 von Hundert“, steht im Bescheid des Finanzamtes. Wieder ein Stempel. Wieder singt Wecker. Wieder tut es weh. Aber man gewöhnt sich sogar an das Gefühl des Versagens.

 „Auch Mozart hatte Tourette“, sagt der Arzt. „Ihre Tochter kann sogar Nobelpreisträgerin werden.“

Ich sehe vor mir, wie die Kamerateams für ihre Homestories auf den Lurch unter unserem Sofa zoomen. „Danke nein. Glücklich soll sie werden, sonst nichts.“

Meine Kinder sind nicht normal.

Eines hängt die Wäsche nur mit gelben Kluppen auf, das andere tickt. Zeitweise richtig. Zeitweise richtig heftig. Ich liebe meine Kinder, mitsamt ihrer Special Effects.

Ich habe „Kinder mit besonderen Bedürfnissen“. Ist es nicht normal, besondere Bedürfnisse zu haben?

Ich habe das besondere Bedürfnis, in der Badewanne Spaghetti zu essen und Rotwein zu trinken. Tick.

Das besondere Bedürfnis, schöne Kleider zu tragen. Tack.

Das besondere Bedürfnis, auf der Bühne aus meinem Leben zu erzählen. Ticktack.

„Mama, du bist peinlich“, sagt meine Tochter.

„Soll ich normal sein?“

 „Vergiss es. Wenn du das versuchst, bist du noch peinlicher.“

Gewinnerin vom 90. Slam B ist Barbara Lehner (rechts)
Diana Köhle

Anmerkungen der Redaktion

Dieser Text wurde beim 90. Poetry Slam am 25. Oktober 2019 von Barbara Lehner im Literaturhaus Wien vorgetragen. Sie hat damit gewonnen. Wir danken für die Zurverfügungstellung.

Der Slam B wird von Diana Köhle in großartiger Weise moderiert. Weitere Informationen zum Slam B finden Sie online.

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7 Kommentare

  • Liebe Frau Lehner,

    ich bin selbst Diagnostiker und weiß, dass leider sehr viele Kolleginnen und Kollegen nicht in der Lage sind Diagnosen sensibel und konstruktiv zu vermitteln. Das ist eine Katastrophe! Ich geniere mich dafür und entschuldige mich stellvertretend.

    Die Mitteilung von Diagnosen ist ein einschneidendes Ereignis, an das sich Menschen oft ein Leben lang erinnern.

    Leider geht es oft nicht ohne Diagnosen, da damit erhebliche therapeutische und sozialpolitische Folgen einhergehen.

    Es ist nötig, die Betroffenen darauf vorzubereiten, Ihnen den Sinn der Diagnosen verständlich zu machen, sie inhaltlich vollständig aufzuklären und vor allem ihnen zu erklären, dass damit keine menschliche Abwertung verbunden sein darf, dass das leider nicht immer allen bekannt ist, und wie man damit umgeht.

    Dazu ist jedoch eine psychotherapeutische Ausbildung nötig, die viele leider nicht haben.

    In Deutschland werden inzwischen in sensiblen Bereichen sowohl diagnostische als auch therapeutische Fähigkeiten bei Stellenausschreibungen gefordert.

    Die schlimmste Form ist allerdings, dem Klienten gar nichts zu sagen, und in mit schriftlichen Mitteilungen einstimmig zu lassen, oder noch schlimmer, gleich selbst abwertende Bemerkungen zu machen.

    Inzwischen kann man hier beim Berufsverband der Psychologen (BÖP) oder bei der Ärztekammer, aber auch bei der Patientenanwaltschaft, Beschwerde einlegen und schauen, dass solche Monster nicht weiter Klienten schädigen können. Da liegt halt auch Verantwortung bei den Opfern solcher Monster, wiewohl ich mir auch bewusst bin, dass es nicht leicht ist, als geschädigteR auch noch an die Öffentlichkeit zu gehen.

    • Korrektur: anstatt „einstimmig zu lassen,“ muss es heißen: „im Stich zu lassen“

  • Sehr geehrte Frau Lehner,

    ihre konzentrierte, zusammengefasste Kritik macht sehr betroffen. Beim zweiten Hinsehen aber fällt mir doch auf, dass Sie alles Negative und vor allem alle negativen Sichtweisen zusammengepackt haben, sodass man sich am liebsten … möchte.

    Das hat natürlich seine Berechtigung, kann aber für Betroffene, die ohnehin mit vielen Benachteiligungen kämpfen müssen, zu einer unnötigen Schwächung führen, die nun aber wirklich nicht notwendig ist.

    Sie sollten das wohl eher den – vermeintlich – Gesunden und den Behinderern in Stammbuch schreiben, als sie auf einer Seite von und für Betroffene.

    • Lieber Herr Castle,

      ich fühle mich ein wenig missverstanden, und ich selbst habe auch nicht das Gefühl, alle negativen Sichtweisen zusammengepackt zu haben, sondern dass der Text eigentlich eine positive Grundstimmung hat. Negativ waren höchstens meine Ängste, die ich als Mutter hatte, als ich mit den Diagnosen meiner Kinder hatte, und ich glaube, so geht es vielen Müttern, dasss sie nicht sagen: „Ey, super, wird ja alles super easy.“

      Jetzt, viele Jahre später – mein Sohn ist mittlerweile 29 und meine Tochter 27 – sehe ich, dass zwar nicht alles immer easy war, aber meine Kinder beide großartige, liebenswerte und vor allem glückliche Menschen sind, die mitten im Leben stehen und es geschafft haben, ihren eigenen Weg im Leben zu gehen.

      Und ich glaub, wir als Eltern haben auch ein bisschen etwas dazu beigetragen, indem wir sie immer so akzeptiert und bestärkt haben, wie sie sind. Wir haben ihre Stärken gesehen und gefördert und ihnen immer das Gefühl gegeben, dass sie genau so, wie sie sind, richtig sind.

      Und trotzdem war da am Anfang diese Phase, wo wir Diagnosen hingeknallt bekommen haben und nicht genau wussten, wie wir damit umgehen sollen. Ich hab den Text auch nicht speziell für Menschen mit Behinderungen geschrieben, sondern für mich. Ich habe ihn bei einem Poetry Slam präsentiert und wurde gebeten, ihn für diese Seite zur Verfügung zu stellen.

  • Danke, yasemin!

  • Der Text macht beim Lesen betroffen. Er ist, so denke ich, aber auch ein Weg heilend zu sein. Danke an Frau Lehner, so einen intimen Text im Poetry Slam geschrieben zu haben. Es bleibt die Hoffnung, dass viele Menschen ihn lesen. Ich werde ihn in unserem Vereinsvorstand – Miteinander leben – für Menschen mit und ohne Behinderung in Tulln teilen.
    Danke auch für eure Arbeit bei BIZEPS. Mit lieben Grüßen Stefan Mayerhofer

  • Einfach keine Sonderschule besuchen und die Behinderung bzw. alltägliche Diskriminierung ist kein Problem mehr. Umgekehrt garantiert die Sonderschule auch gleich ein Sonderleben. Oder so ähnlich. Auch andere Schulen und Universitäten werden unterschiedlich bewertet, und zwar nicht deshalb, weil dort nur Behinderte unterrichtet werden.

    Psychologische Diagnosen werden einerseits überbewertet, man braucht sich nur die anzuschauen, die sich dafür interessieren. Andererseits gibt es tatsächlich Behinderte mit Förderungsbedarf. Und ist das deshalb gleich kein ’normales‘ oder Scheißleben, wie es dieser Artikel suggeriert? Es ist illusorisch zu glauben, MmB werden als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft betrachtet, nur weil sie keine Sonderschule mehr besuchen.