Ab mit euch ins Heim!

Eine bundespolitische Geisterfahrt in Sachen Inklusion. Zu den Folgen der Abschaffung der erhöhten Familienbeihilfe. Ein Kommentar von Wolfgang Waldmüller.

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Die Familienministerin Juliane Bogner-Strauß (ÖVP) hat angekündigt, dass keine negativen Bescheide zur erhöhten Familienbeihilfe für erwachsene Menschen mit Behinderungen mehr ausgestellt werden und das Gesetz „repariert“ werden soll.

Es handelt sich dabei um ein Gesetz, das 50 Jahre lang eigentlich gut funktioniert hat. Müssen wir uns vor der angekündigten „Reparatur“ nicht eher fürchten?

Es scheint jedenfalls, dass Teilen der aktuellen Bundesregierung nicht bewusst ist, was die Streichung der erhöhten Familienbeihilfe für erwachsene Menschen mit intellektuellen oder psychischen Behinderungen für fatale menschenrechtliche und volkswirtschaftliche Wirkungen generieren würde.

Volkswirtschaftlich gesehen kann eine Streichung der erhöhten Familienbeihilfe zunächst das österreichische Sozialsystem um jährlich etwa 120 Millionen Euro verteuern. Dem steht eine „Ersparnis“ von etwa 23 Millionen Euro für einbehaltene Familienbeihilfe gegenüber. Saldiert also eine Verteuerung um fast 100 Millionen Euro pro Jahr.

Dies ergibt sich daraus, dass die Streichung der erhöhten Familienbeihilfe österreichweit eine zwangsweise Reinstitutionalisierung von mindestens 5.000 Menschen mit Behinderung in Heime und andere stationäre Angebote bedeuten würde. Es handelt sich um diejenigen Menschen, die in den letzten 20 Jahren gelernt haben, mit geringer ambulanter Unterstützungsleistung selbständig zu leben.

Menschen mit Behinderungen, die zum Teil schon seit vielen Jahren in eigenen (Miet-)Wohnungen leben und sich dieses Leben bei Wegfall der erhöhten Familienbeihilfe nicht mehr leisten könnten. Ohne erhöhter Familienbeihilfe (€ 379,40 12-mal im Jahr) nur von der Mindestsicherung (ca. € 820,– 12-mal im Jahr) ist das bei den Zusatzkosten, die Menschen mit Behinderungen sonst noch haben, nicht mehr leistbar.

Da die Betroffenen aber Unterstützung benötigen – die sie in der eigenen Wohnung ambulant und damit ebenfalls kostengünstigst erhalten – müssten sie bei Wegfall der Familienbeihilfe in vollbetreute, stationäre Einrichtungen wechseln, wobei die etwa 5.000 zusätzlichen Plätze überhaupt erst geschaffen werden müssten.

In jedem Fall heißt das: zurück ins Heim für etwa 5.000 Menschen (ich gehe optimistisch davon aus, dass Obdachlosigkeit von Menschen mit intellektuellen und psychischen Behinderungen politisch nicht erwünscht ist). Stationäre Betreuung ist unter Einbeziehung aller Kosten jedoch mindestens doppelt so teuer wie ambulante Betreuung. Von den Errichtungskosten für diese Einrichtungen gar nicht zu reden.

Offenbar sollte aber auch eine Streichung der erhöhten Familienbeihilfe für Menschen im stationären Bereich stattfinden. Vielleicht um die 100 Millionen Mehrkosten im bisher ambulanten Bereich auf etwa 40 Millionen Mehrkosten pro Jahr zu reduzieren. Die Streichung der erhöhten Familienbeihilfe für Menschen mit Behinderungen in stationärer Unterbringung würde jedenfalls die völlige Verarmung von etwa 13.000 Menschen österreichweit bedeuten.

Diese leben in vollbetreuten Einrichtungen (Wohngemeinschaften, Behindertenwohnhäusern, Heimen) und bei ihnen stellt die erhöhte Familienbeihilfe (oft vermindert um Eigenbeiträge an die Betreiber) schon heute das einzig verbleibende Geld zum Erwerb von Kleidung, Einrichtungsgegenständen, Abdeckung von Freizeitkosten und zur Beschaffung von Dingen des persönlichen Bedarfs dar.

Menschen mit Behinderungen wären ohne erhöhte Familienbeihilfe erstmals seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder auf Altkleidersammlungen und ähnliche Almosen angewiesen. Was hier droht, ist die gesellschaftspolitische Reduzierung von Menschen auf „warm, satt und sauber“ in der zumeist fremdbestimmten Versorgungswelt von Heimen, in denen individuelle Bedürfnisse von „Sachzwängen“ aller Art dominiert werden.

All dies wäre ein massiver Verstoß Österreichs gegen nationales wie internationales Recht. 2007 hat Österreich die UN Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Ein zentrales Ziel der UN Konvention ist Deinstitutionalisierung – also die Abschaffung von „Sonderwohnformen“. Hier wäre exakt das Gegenteil erreicht.

Es bleibt die Frage: Warum ist das plötzlich politisch erwünscht? Über 50 Jahre lang wurde die erhöhte Familienbeihilfe für erwachsene Menschen mit Behinderungen in Österreich nicht in Frage gestellt. Wer will Menschen mit Behinderungen, die ohnehin an der Armutsgrenze leben einen existenziellen, im Kern auch menschenverachtenden, Schaden zufügen? Wer setzt ohne Not solch eine Entwicklung in Gang?

Nun, der Impuls zur Einstellung der erhöhten Familienbeihilfe kam überraschenderweise aus dem Bundeskanzleramt. Kanzleramtsminister ist dort Gernot Blümel. Er ist gleichzeitig auch Spitzenkandidat seiner Partei in Wien. Schon bald, spätestens aber 2020, gibt es Wahlen in Wien. Aufgrund der EinwohnerInnenzahl leben hier die meisten Betroffenen. Insgesamt geht es in Wien um mindestens 3.300 Menschen mit Behinderungen, denen die erhöhte Familienbeihilfe gekürzt werden könnte.

Menschen die, sofern es keine Kompensation gibt, dadurch in bitterste Armut fallen würden. Soll hier das Wiener Sozialsystem zu Wahlkampfzwecken attackiert werden, um zuerst Chaos zu erzeugen, um dann mit dem Finger auf Wien zu zeigen? Aus Blümels Umfeld war Richtung Stadt Wien jedenfalls zu hören, dass die Länder „die Mehrkosten ja gerne übernehmen können.“

Die Stadt Wien müsste mindestens 16 Millionen Euro jährlich zusätzlich in die Hand nehmen, um den Schaden durch den Ausfall der Familienbeihilfe zu kompensieren. Kosten für behinderte Menschen, die sich der Bund in Zukunft ersparen will und die von den Ländern frühestens beim nächsten Finanzausgleich wieder eingebracht werden könnten.

Zahlt es sich wirklich aus Menschen, die von Geburt an mehrfach behindert sind zum Spielball wahltaktischer Überlegungen in einem „Bund gegen Länder“ – Match zu machen? Der Bundesregierung ist so die existenzielle Verunsicherung von zehntausenden Betroffenen und deren Angehörigen leider gelungen. Und 10 Tage nach der Ankündigung der Familienministerin, „sie werde diese Maßnahme unverzüglich wieder auszusetzen“ bleibt weiterhin unklar in welche Richtung ein Gesetz, das eigentlich 50 Jahre lang gepasst hat, „repariert“ werden soll.

Ein Trost bleibt: Betroffene, Angehörige, Freunde und UnterstützerInnen, SachwalterInnen sowie professionelle BetreuerInnen von Menschen mit Behinderungen stellen österreichweit wohl an die 100.000 Personen, die eines gemeinsam haben: Sie werden auf Landes- wie auf Bundesebene wählen gehen. Und die mediale Öffentlichkeit wird auch nicht schweigend der zynischen Demontage von Inklusion und Integration zusehen.

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8 Kommentare

  • Es bestätigt sich immer mehr, dass diese rechts-kapitalistische Regierung nichts für das Volk zu tun gedenkt. DieTÜRKISEN haben es ja eh nie wirklich behauptet, aber die BLAUEN oder besser die BRAUNEN ???-warben doch immer um das Volk.
    WOHIN FÜHRT DAS NOCH?????

  • Ich habe das Gefühl all das dient der Vorbereitung eines neuen Feindbildes. Irgendwann werden die Grenzen geschlossen sein und der Sündenbock Asylwerber nicht mehr funktionieren. Dann wird ein neuer Sündenbock gebraucht werden. In Kommentaren zu Artikeln der Kronenzeitung habe ich schon gelesen“ den Behinderten wird kein Geld weggenommen. Es wird ihnen nur weniger geschenkt“. auch das kennen wir aus der Geschichte. Dann wird man uns wieder in lagern konzentriert halten wollen um uns besser helfen zu können, fuerchte ich. Nein, das war jetzt böse. Lager wird keiner sagen, Wohneinrichtungen klingt harmloser.

  • Die erhöh. FamBeih wird aus dem Familienausgleichsfonds (FLAF) bezahlt, welcher Großteils durch Dienstgeberbeiträge und zu einem geringen Teil aus der Einkommenssteuer lukriert wird.
    Es passt diese neue Wegnehm-Aktion exakt in die Richtschnur dieser Regierung.

    Der Wirtschaft und der Industrie helfen, dem Volk Sozialleistungen wegnehmen! Und zugleich gibt es die behinderten Menschen, die bereits einen Wohnplatz und/oder eine Tagesstruktur haben. Wenn hier die erhöhte Familienbeihilfe wegfällt, fällt mit dieser Familienbeihilfe auch der adäquate Kostenanteil, den die Länder für die Unterbringung kassieren, auch weg. Es ist damit zugleich eine Aufwandsverschiebung vom Bund an die Länder. (wie schon mehrfach durchexerziert in letzter Zeit).

    • Das isses ja auch, daß schon seit längerem (schon vor dieser Regierung!) nahezu alle soziale Entwicklung mit „wirtschaftlichen Argumenten“ erschlagen wird.
      Sozusagen:
      „Uiii! Was das wieder kostet, Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen! Ob sich das die (Volks) Wirtschaft leisten kann?!?“
      Sollte nicht eigentlich die Wirtschaft dem Menschen dienen und nicht der Mensch der Wirtschaft?!?!

  • Ich danke auch für den klar darstellenen Artikel, was dieser Schwachsinn nach sich ziehen würde! Ein klares Zeichen der Zivilgesellschaft wäre hier angesagt, nicht nur bei den Wahlen. Aber schauen wir einmal, wie diese Korrektur des Gesetzes aussehen würde.

    Und nicht zu vergessen, auch unsere jetzige Regierung kommt nicht vom Himmel geflogen. Die Parteien mit ihren MachenschafterInnen wurden von UNS gewählt…

  • Danke für diesen Artikel.
    Auch wenn das Argument (große Wählergruppe von 100.000) teilweise zutreffen möge, dürfen wir uns nichts vormachen. Die Zeiten haben sich in den letzten 50 Jahren dramatisch verändert (z.B. Globalisierung, Internet). Und zunehmend ist altes menschenverachtendes Gedankengut mit dem Neoliberalismus, Kapitalismus und der Konsumgesellschaft sowie mit Digitalisierung, Ökonomisierung der Medizin und Fortschrittswahn in Wissenschaft/Forschung eine fatale Verbindung eingegangen. Das einzige was heute zählt ist „jung, gesund, erfolgreich“. Da ist wieder die Vision vom „Neuen Menschen“, die ideengeschichtlich tief verwurzelt ist und sich heute schon längst über Parteigrenzen weggesetzt hat. In Deutschland hat es übrigens im April dieses Jahres von der AfD wirklich erschreckende Äußerungen über behinderte Menschen gegeben.
    Ich bin der Ansicht, dass sich Betroffene, Angehörige, Freunde und Unterstützer nicht allein auf Wahlen verlassen sollten. Wir sollten alle über unseren Tellerrand schauen, uns solidarisieren, gemeinsame Nenner finden und mit Hilfe eines möglichst großen Anteils der Zivilgesellschaft ein friedliches, aber sehr deutiges Signal an die Öffentlichkeit, Medien, Politik und unsere Mitmenschen senden:
    Und zwar dass jeder Mensch gleich viel Würde, Wert und Recht hat, egal ob behindert oder nicht behindert, egal ob gesund oder krank, egal ob jung oder alt.

    • Das wird schwierig, wenn Behinderte und deren Selbsthilfeorganisationen einander so spinnefeind sind. Und auch, wenn sich hauptsächlich für das liebe Geld eingesetzt wird, nicht aber dafür, dass sie sich selbstbestimmt aus- und weiterbilden können oder gar einen Job bekommen, der zu ihnen passt. Hauptsache Job ist das Motto.

    • Sie haben völlig Recht. Wir müssen etwas tun, Zeichen setzen. Nur wie? Ich bin ratlos.