Seit einigen Monaten beobachte ich in der Schweiz mit wachsender Sorge die Entwicklung auf dem Hilfsmittelmarkt.
Nicht dass die Katastrophe nicht schon längst da wäre: „Kassensturz“ und „Beobachter“ berichten seit über einem Jahrzehnt mit erschreckender Regelmässigkeit über die total überrissenen Preise im Hilfsmittelmarkt in der Schweiz.
In der Analyse legen sie den Finger auf den wunden Punkt: die Versicherungen („Invalidenversicherung“-(IV), Krankenkassen, Militärversicherung und SUVA etc.) „zahlen und zahlen und zahlen“, weil kein echter Markt existiert. Kartellabsprachen sind systematisch im Gesetz vorprogrammiert.
Vor Erstaunen die Ohren gewackelt
Ich habe ja im Behindertenwesen schon einiges erlebt, aber als ich herausfand, dass unser („neues“) Kartellgesetz den IV- und Gesundheitsbereich ausdrücklich aus seinem Geltungsbereich ausklammert, haben sogar mir vor Erstaunen die Ohren gewackelt!
Wir Betroffene erleben die Kehrseite der selben Medaille: Die Entwicklung von Elektrollstühlen scheint vor etwa 30 Jahren stillgestanden zu sein. Trotzdem kostet so ein Ding heute mehr als ein Kleinwagen. Doppelt und dreifach mehr als im Ausland – wo die Preise ebenfalls überrissen sind und die Qualitätsentwicklung oft nicht weniger lausig ist.
Kartelle und Monopole
Das Hauptproblem: Obwohl es auf dem Weltmarkt durchaus genügend Kunden für E’Rollis gäbe, aber jedes Land im Hilfsmittelbereich „Heimatschutz“ betreibt, sind die einzelnen Märkte zu klein. Kartelle und (staatlich gesicherte) Monopole in den einzelnen, abgeschotteten Märkten verhindern die Entwicklung.
Nicht Markt- sondern Planwirtschaft
Wenn es um Behinderte geht, betreiben die meisten Länder nicht Markt- sondern Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild – mit den selben Folgen. (Ob das wohl damit zusammen hängt, dass die meisten Parteien die eigentliche Bewirtschaftung der Behinderten der Sozialdemokratie überlassen, so lange sie selber die Hand am Geldhahn behalten können?).
Monopoleinkäufer
Seltsamerweise verlieren auch Konsumentenorganisationen wie der „Kassensturz“ ihren Kopf, sobald es um Behinderte geht: statt Konsumentenschützer (der die Interessen der Behinderten wahrnimmt, die auf die Hilfsmittel angewiesen sind) werden sie zum Staatsschützer! So schlägt z. B. der „Kassensturz“, der sonst so gern für die Liberalisierung der Märkte und gegen Staatsmonopole kämpft, vor, dass die IV selber als Monopoleinkäufer auftreten und dadurch Mengenrabatte heraus schlagen solle.
Um die Absurdität dieses Vorschlags zu begreifen, müsste man sich vorstellen, der „Kassensturz“ schlüge vor, dass der Staat für seine Bürger z. B. Autos einkaufen würde. 3 Standardautotypen, die nach seinem Gutdünken den Bedürfnissen der Autofahrer „wirtschaftlich und zweckmässig entsprechen“ und diese in grossen Mengen bestellt, mit entsprechendem Mengenrabatt natürlich. Da könnte man doch auch viel Geld sparen! Man erinnere sich an den berühmten sowietischen Standardbüstenhalter …
Der Kunde ist König – wir sind nur Klienten
Im Grunde genommen handelt der Kassensturz aber durchaus systemkonform: Der Kunde ist König. Und Kunde für Hilfsmittel ist eben nicht der Behinderte, sondern der Staat, sprich der Steuer- bzw. der Kassenprämienzahler. Der bezahlt und befiehlt.
Wir Benutzer von Hilfsmitteln sind eben nur Klienten, die sich dankbar mit dem zu begnügen haben, was der Staat uns zubilligt. Folgerichtig in dieser Logik soll der Staat als Interessenvertreter der Steuerzahler auch seine Marktmacht nutzen.
„Wer zahlt befiehlt“
Das alles ist Basistheorie der Volkswirtschaft: eine simple Anwendung von „wer zahlt befiehlt“. Was mich in den letzten Wochen aber wirklich erschreckt, ist die Tatsache, dass die IV – nachdem sie das Problem während Jahren ignoriert hat – nun genau das tun will, was der „Kassensturz“ vorschlägt! Im Hörgerätebereich, wo die skandalösen Kartellabsprachen und Gewinnmargen schon seit über 20 Jahren medienkundig sind, wollte sie per Ausschreibung grosse Posten an Standardgeräten einkaufen.
Staat hat Interesse an möglichst billigen Geräten
Ich hätte nun einen Aufschrei der Interessenvertretung der Behinderten erwartet! Schliesslich müssten sie wissen, dass es keine 2 Behinderten gibt, welche genau die selben Bedürfnisse haben. Dass nur die Betroffenen selber entscheiden können, was für sie persönlich die gute Qualität eines Gerätes ausmacht.
Und dass der Staat als Einkäufer grundsätzlich kein Interesse an möglichst guten – höchstens „genügenden“ – dafür aber ein sehr grosses Interesse an möglichst billigen Geräten haben kann. Und dass ein solches Vorgehen die Vielfalt der Anbieter und Angebote verhindern, und damit letztlich auch dem Konkurrenzdruck schaden und die Qualitätsentwicklung mittelfristig lähmen muss.
Gut bezahlte Rolle der Interessensvertretung?
Aber nein, genau das Gegenteil war der Fall: Pro Audito, die sich als Interessenvertretung der Hörbehinderten und Gehörlosen versteht, findet den Vorschlag der IV toll! Ich war schockiert. Später erwachte in mir die böse – aber natürlich unbewiesene – Vermutung, ob die Pro Audito wohl vom BSV irgend eine gut bezahlte Rolle in der Administration der „Staatshörgeräte“ versprochen bekam und damit elegant zum Schweigen gebracht wurde?
Glücklicherweise ging der vorschnelle Schuss der IV diesmal noch hinten hinaus: Auf eine Klage einiger Hörgerätehersteller hin, pfiff das Bundesgericht die IV vor wenigen Tagen zurück, weil der IV zu einem solchen Vorgehen schlicht die gesetzliche Grundlage fehlt.
Jetzt aber steht zu befürchten, dass die IV im Rahmen der anstehenden 6. IV-Revision still und leise eine kleine Änderung in den Gesetzen vornehmen wird. Und dann – wenn es einmal mit den Hörgeräten geklappt hat – dasselbe Vorgehen bei allen Hilfsmitteln anwenden wird.
Klapprige Bundesstandardrollstuhl
Ich kann mir in meinen Albträumen schon jetzt physisch vorstellen, wie sich das Leben in einem klapprigen Bundesstandardrollstuhl anfühlen wird! Die 99 % der sowjetischen Frauen, denen der Staatsdurchschnittsbüstenhalter nicht genau passte, konnten ja wenigstens auf das Tragen von Bhs verzichten – was in einigen Fällen sicher auch ganz schöne Folgen für die Männer hatte. Aber wir …
Würden unsere Politiker nicht ihre Köpfe verlieren, sobald es um Behinderte geht, wäre die einzig richtige Lösung schon längst offensichtlich.
Lustigerweise wird sie bei einem der teuersten aller Hilfsmittel auch in der Schweiz längst erfolgreich und problemlos praktiziert: Behinderte, die den öffentlichen Verkehr nicht benutzen können, haben unter Umständen Anspruch auf ein Auto als Mobilitätshilfsmittel.
Die IV kauft ihnen jedoch kein Standard-IV-Auto, sondern zahlt ihnen einfach jährlich einen Achtel des Preises des günstigsten Autos, das ihren nachweislichen Bedürfnissen gerade noch entspricht und einen kleinen Reparaturbeitrag. Und Tschüss: Die Behinderten kaufen sich, was SIE selber für gut halten auf dem freien Markt.
Es gewinnen …
Kontrollen sind gar nicht notwendig, denn die Betroffenen wissen, je länger und sorgsamer sie mit dem Auto fahren, desto mehr gewinnen sie. Einige der grossen Autoverkäufer haben die Behinderten jetzt auch als Kunden entdeckt und geben uns 10 % Flottenrabatt! Es gewinnen die Behinderten, die Autoverkäufer und die Steuerzahler.