Die Artikel 20 und 21 des Bundes-Behindertengleichstellungs-Begleitgesetzes sehen Liberalisierungen bei der Notariatsaktspflicht schriftlicher Rechtsgeschäfte von sinnesbehinderten Menschen vor.
Urkunden über Rechtsgeschäfte, die Menschen mit bestimmten Sinnesbehinderungen – blinde, gehörlose und der lautsprachlichen Kommunikation nicht mächtige Personen – schließen, bedürfen nach § 1 Abs. 1 lit. e Notariatsaktsgesetz (NotariatsaktsG) aus dem Grund der Behinderung eines Notariatsaktes, also eines bestimmten, nur durch einen Notar unter Beisein von Aktszeugen zu erstellenden Formalaktes.
Die Geschichte des Notariatsaktsgesetzes ist lang und geht bereits auf die Monarchie zurück. Schon am 25. Juli 1871 wurde diese Schutznorm in Form des damaligen Notariatsakts-Zwangsgesetzes erlassen. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der diskriminierende und benachteiligende Charakter dieser „Schutznorm“ für Menschen mit Behinderungen immer wieder intensiv diskutiert. Dementsprechend wurden auch von Zeit zu Zeit Maßnahmen zur Lockerung der Notariatsaktspflicht für Menschen mit Behinderungen gesetzt. Zuletzt im Jahr 2001 anlässlich des Ergebnisses der Arbeitsgruppe zur Durchforstung des Bundesrechts nach behindertendiskriminierenden Bestimmungen im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes.
Nun nimmt das Justizministerium einen neuerlichen Anlauf, um rechtzeitig mit dem Wirksamwerden des Bundes-Behindertengleichstellungspaketes auch rechtliche Diskriminierungen im Bundesrecht, wie etwa jene im Notariatsaktsgesetz, zu entschärfen.
Nach Art. 20 des vorliegenden Entwurfes für ein Bundes-Behindertengleichstellungs-Begleitgesetz soll für Rechtsgeschäfte, die die behinderte Person in ihrer Eigenschaft als Unternehmer schließt, die Notariatsaktspflicht nicht mehr gelten. Dies dient, so die Erläuterungen dazu, einerseits der Sicherung des Rechtsverkehrs, wenn zumindest auf einer Seite ein behinderter Unternehmer auftritt, andererseits auch dem Abbau der Benachteiligung behinderter Unternehmer, da die Geschäftspartner derzeit zumindest theoretisch zu befürchten haben, dass sich die behinderte Person nach § 1 Abs. 3 NotariatsaktsG auf die Ungültigkeit des Vertrages beruft. Von einem Unternehmer kann nämlich erwartet werden, so die Erläuterungen weiter, dass er im Rahmen seines Unternehmens über Vorkehrungen verfügt, die ihm trotz seiner Behinderung die Teilnahme am Geschäftsverkehr ohne ihn schützende Formalitäten ermöglichen.
Damit sollten wohl die aus der jüngeren Vergangenheit bekannten Fälle, dass z. B. Banken mit blinden Unternehmern keine Firmenkontoverträge schließen wollten, nicht mehr möglich sein.
Aber nicht nur für Unternehmer mit Behinderung, sondern auch für Privatpersonen mit Sinnesbehinderungen sieht der Entwurf eine Lockerung der Notariatsaktspflicht vor:
Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens und bankübliche Verträge, die sich auf ein Girokonto beziehen, sollen blinde Personen nach dem Entwurf auch dann ohne Notariatsakt schließen können, wenn sie durch ein geeignetes technisches Hilfsmittel – z. B. Scanner und Screenreader – vom Inhalt der Urkunde Kenntnis erhalten. Sollte das Hilfsmittel fehlerhaft – etwa bei verwechslungsfähigen Zahlen – lesen, so ist es nicht geeignet und das Rechtsgeschäft mangelhaft. Die behinderte Person könnte sich in diesem Fall nach § 1 Abs. 3 NotariatsaktsG zu ihrem Schutz auf die Ungültigkeit des Rechtsgeschäftes berufen.
Wenngleich dies so deutlich in den Erläuterungen nicht gesagt wird, ist aber unter Zugrundelegung einer teleologischen Interpretation doch davon auszugehen, dass man sich künftig als blinder Mensch grundsätzlich dann von der Notariatsaktspflicht bei Geschäften des täglichen Lebens und banküblichen Verträgen, die sich auf ein Girokonto beziehen, befreien kann, wenn man den tatsächlichen Inhalt der Urkunde mit technischen Hilfsmitteln, wie beispielsweise einem Scanner, richtig feststellen konnte.
Das Rechtsgeschäft wäre wohl nur dann mangels Notariatsaktes ungültig, wenn im Einzelfall wegen eines Erkennungsfehlers des Gerätes vom blinden Menschen tatsächlich ein Inhalt der Urkunde falsch gelesen wurde. Wollte man den Gehalt dieser geplanten Lockerung der Notariatsaktspflicht nicht so interpretieren, so käme im Ergebnis heraus, dass das Feststellen des Inhalts einer Urkunde mit einem Scanner nie von der Notariatsaktspflicht befreien könnte, da es ja so gut wie keine, für den „Otto Normalverbraucher“ leistbare, Scannertechnologie gibt, die eine 100% fehlerfreie Texterkennung gewährleisten kann; damit wäre aber das technische Hilfsmittel Scanner, das aus dem selbständigen Leben sehbehinderter und blinder Menschen kaum mehr wegzudenken ist, stets als ungeeignet anzusehen. Eine solche Absicht kann man dem Gesetzgeber wohl kaum unterstellen.
In ähnlicher Weise sollen Urkunden über Verträge des täglichen Lebens und in Bezug auf Girokonten von gehörlosen Personen, die nicht lesen können, oder von der lautsprachlichen Kommunikation nicht mächtigen Personen, die nicht schreiben können, von der Notariatsaktspflicht ausgenommen sein, wenn die behinderte Person sich durch einen Gebärdensprachdolmetsch Kenntnis vom Inhalt der Urkunde verschaffen konnte.
Die Möglichkeit der Beiziehung einer Vertrauensperson steht nach dem Gesetzesentwurf künftig nicht mehr nur blinden, sondern auch gehörlosen und der lautsprachlichen Kommunikation nicht mächtigen Personen zu.
Ebenfalls ausgedehnt werden soll die Regelung hinsichtlich Girokonten; die ausdrückliche Einschränkung der Ausnahme von der Notariatsaktspflicht auf die Eröffnung von Girokonten soll wegfallen. Damit können nun alle Rechtsgeschäfte betreffend Girokonten, z. B. Einziehungs-, Daueraufträge, Verträge über Bankomatkarten oder Überziehungsrahmen auch ohne Notariatsakt geschlossen werden.
Die geplanten neuen Regelungen lassen sonstige Bestimmungen über die Notariatsaktspflicht unberührt. Dazu gehören jene Bestimmungen, nach denen, abhängig von der Art des Rechtsgeschäfts, die Notariatsaktspflicht besteht, etwa für Schenkungsverträge ohne wirkliche Übergabe oder für Rechtsgeschäfte unter Ehegatten.
Diese Neuerungen sollen nach dem Gesetzesentwurf mit 1. Juli 2006 in Kraft treten. Die Begutachtungsfrist zum Bundes-Behindertengleichstellungs-Begleitgesetz läuft noch bis 31. Jänner 2006.