Armutsfalle Sozialhilfe

VertretungsNetz kritisiert das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz. Es bietet armutsbetroffenen Menschen keine finanzielle Existenzsicherung.

Andreas Wöckinger, Jurist, SozialrechtsNetz der Armutskonferenz, Studienautor Carmen Bayer, Soziologin, Salzburger Armutskonferenz Martin Schenk, Sozialexperte, Psychologe, Die Armutskonferenz. Birgit Lechner, Erwachsenenvertreterin bei VertretungsNetz in OÖ
VertretungsNetz

Bei der Präsentation des aktuellen Wahrnehmungsberichts der Armutskonferenz über die Auswirkungen des 2019 geschaffenen Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes und seiner bundesländerabhängigen Ausführungsgesetze am 23. März 2022 bestätigt sich, was VertretungsNetz schon lange beobachtet:

Das Zweite Soziale Netz, das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz, schützt nicht vor Armut. Gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen oder intellektuellen Beeinträchtigungen bekommen das immer häufiger zu spüren. Birgit Lechner, Erwachsenenvertreterin bei VertretungsNetz in Oberösterreich, weiß anlässlich des Pressegesprächs von zahlreichen Schicksalen zu berichten, denn in ihrem Bundesland ist ein Ausführungsgesetz mit vielen Härten dazu entstanden.

Bürokratische Hindernisse

Die Hürden für die EmpfängerInnen beginnen schon während der Antragstellung. Bis zu drei Monate müssen AntragstellerInnen auf eine Entscheidung über die Höhe der Auszahlungen warten, häufig wird der Antrag noch länger verschleppt.

Während dieses Zeitraums lasten Wohnraum- und Lebensmittelkosten auf ihren eigenen Schultern und sind fast nicht finanzierbar.

Auch Frau K., eine Klientin der Erwachsenenvertreterin, hatte dieses Problem. Weil keine Entscheidung über ihren Antrag in Sicht war, hat Birgit Lechner für sie eine sogenannte Säumnisbeschwerde eingereicht und direkt bei der Behörde vorgesprochen.

„Meine Klientin konnte während ihrer Wartezeit Wohnung und Lebensmittel nicht bezahlen. Das muss man sich mal vorstellen! Den Behörden ist gar nicht bewusst, was sie mit langen Bearbeitungszeiträumen auslösen“, ist Lechner immer noch fassungslos.

Zusätzlich wurde Frau K. dann noch auf Grund neuer Bestimmungen der Sozialhilfe die Wohnbeihilfe drastisch gekürzt. Sie hat jetzt 111 Euro im Monat weniger zum Leben.

Falsch kategorisiert

Doch selbst, wenn man das aufwändige Verfahren durchgestanden hat, bleibt wenig zum Leben. Das erfahren Menschen in (teil-)betreuten Wohneinrichtungen verstärkt, weil hier verminderte Richtsätze gelten.

So auch Herr M.: Seine Aufwandsentschädigung für die Arbeit in einer geschützten Werkstätte, nämlich 160 Euro, werden ihm nicht mehr als Freibetrag gutgesprochen, sondern von der Sozialhilfe abgezogen, so dass ihm 684,56 Euro pro Monat übrigbleiben. Davon muss er noch 620 Euro Wohn- und Lebensmittelbeitrag stemmen.

Letztendlich bleiben ihm 60 Euro zum Leben – auf Freizeitfreuden, die mit Kosten verbunden sind, verzichtet Herr M. gänzlich, um sich Kleidung und den regelmäßigen Besuch bei seiner entfernt lebenden minderjährigen Tochter leisten zu können.

„KollegInnen bei VertretungsNetz stellen Spenden für ihn auf, damit sich sein Leben halbwegs ausgeht. Das kann doch nicht im Sinne des Erfinders der Sozialhilfe sein“, ärgert sich Lechner über das Nachfolgegesetz der Mindestsicherung.

„Überhaupt, verminderte Richtsätze in allen teilbetreuten Wohnungseinrichtungen auszuzahlen, ist absurd. Da wohnen Menschen in einer Einrichtung zusammen, die von den Behörden bunt zusammengewürfelt wurden. Sie teilen sich den Küchenraum und manchmal noch die Waschmaschine, aber leben sicher nicht in einer Haushalts- oder Lebensgemeinschaft. Dennoch werden sie vom Staat als solche beurteilt und erhalten so monatlich rund 300 Euro weniger als Alleinstehende“, kritisiert die Erwachsenenvertreterin die neue Praxis.

Zu wenig zum Leben

Auch Menschen in vollbetreuten Wohn- und Seniorenheimen trifft die Sozialhilfe hart: Der neue Richtsatz gesteht den BewohnerInnen ganze 156,74 Euro im Monat zu. Dieser Betrag muss ausreichen, um sich die kleinen privaten Bedürfnisse zu erfüllen, die im Wohnheimalltag nicht inkludiert sind: Frisör, Fußpflege, Süßigkeit, Lieblingsmüsli und das hautfreundliche Duschgel.

„In vielen Fällen bleibt den BewohnerInnen aber nicht einmal dieser geringe Richtsatz“, klagt Birgit Lechner.

Sie erzählt von ihrer Klientin Frau W.: Diese ist seit 2012 in einer vollbetreuten Wohneinrichtung. Sie bezieht von ihrem Vater 200 Euro Unterhalt, der von der Sozialhilfe abgezogen wird – eine Unterstützung erhält sie daher nicht. Zusätzlich muss sie wegen des Unterhalts 160 Euro Wohnkostenbeitrag an das Land Oberösterreich zahlen.

Ihr bleiben 40 Euro im Monat – viel zu wenig, wenn man bedenkt, was das Leben heutzutage kostet. Dabei hat jeder Mensch das Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und dazu gehört es auch, sich einen Frisörbesuch oder das Lieblingsjoghurt leisten zu können.

Neue Sozialhilfe nötig

Birgit Lechner fühlt sich durch den Wahrnehmungsbericht der Armutskonferenz in dem bestätigt, was sie in ihrer täglichen Praxis als Erwachsenenvertreterin bei VertretungsNetz erlebt:

Das Sozialhilfegrundsatz-Gesetz und die entsprechenden Ausführungsgesetze sind keine Hilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder intellektuellen Beeinträchtigungen. Die Richtsätze haben sich verschlechtert und sind zu knapp bemessen. Armut wird nicht verhindert und die Perspektive auf eine selbstbestimmte Zukunft versperrt. VertretungsNetz fordert daher von der Politik, die Sozialhilfe neu aufzustellen, denn das Zweite Soziale Netz darf keine Armutsfalle bleiben.

Link zum Wahrnehmungsbericht der Armutskonferenz: Erhebung zur „Sozialhilfe“ aus Sicht von ExpertInnen der sozialen Praxis

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2 Kommentare

  • Es ist schrecklich diesen Artikel zu leben.
    Die gesetzlichen Ziele von Selbstbestimmung werden in der Umsetzung mit Füßen getreten!

  • DANKE, dass ihr wieder mal auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam macht!

    Ich, als Bewohnerin einer betreuten Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen (in OÖ), bin auch direkt davon betroffen – ich musste damals aus einer Voll- in die Teilbetreuung wechseln (obwohl es mir psychisch überhaupt nicht gut ging), weil, u.A., es als erwachsener Mensch einfach nur degradierend ist, auf nur € 150,- Taschengeld angewiesen zu sein.

    Das Land begründet das damit, weil ja durch die Vollbetreuung sowieso alle notwendigen Kosten vom Land gedeckt werden (was nicht mal stimmt!). Hierbei wird auch (bewusst?) ausgelassen, dass es für alle Ausgaben ein Höchstlimit gibt – was ja erst einmal verständlich ist – und für alles, was darüber hinausgeht, die Bewohner selbst aufkommen müssen. ABER wenn für z.B. Lebensmittel UND Hygieneartikel nur mickrige € 6,-/Tag zur Verfügung gestellt werden, ist das einfach ein Witz (weil alles einfach immer teurer wird und man vielleicht auch nicht nur Dreck kaufen möchte) und somit muss man dann natürlich oft auf das Taschengeld (was ja eigentlich für Kleidung und Freizeitaktivitäten bestimmt ist) zurückgreifen!

    Familienbeihilfe? Bekommt man in der Vollbetreuung normalerweise nicht, weil von der Behörde das damit begründet wird, dass ja die Wohnkosten übernommen werden.

    Pflegegeld? Da kann ich nur viel Glück wünschen, da man dabei oft leer aus – VOR ALLEM, wenn man eine psychische Beeinträchtigung hat. Und selbst wenn man dieses dann hat, wird es einem sowieso wieder abgezogen, obwohl man ja gerade als beeinträchtigter Mensch meist höhere Ausgaben hat und somit auf mehr Geld angewiesen ist.

    Zuverdienst durch Arbeit? Ist oft aufgrund der Beeinträchtigung nicht möglich; viele sind erwerbsunfähig. Wenn man aber doch, zumindest geringfügig, arbeiten gehen kann (z.B. – wie oft üblich – in einer Werkstatt oder einer sogenannten fähigkeitsorientierten Aktivität) wird einem das auch wieder abgezogen!

    Man stelle sich vor: Da bemüht man sich als beeinträchtigter Mensch – der es am ersten Arbeitsmarkt sowieso schon immens schwer hat, weil unsere Gesellschaft noch immer so dermaßen behindertenungerecht- bzw. -feindlich ist und man somit meistens in Werkstätten landet – einer Arbeit nachzugehen, die auch einen großen Beitrag zur Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und psychischen Gesundheit leistet und dann wird einem die Entlohnung (welche auch noch viel zu niedrig ist) auch noch abgezogen und wird dadurch wieder in die Abhängigkeit, Perspektivenlosigkeit, Armut und Krankheit gedrängt.

    Man stelle sich vor, man wechselt von der eigentlich benötigten Vollbetreuung in die Teilbetreuung, damit man finanziell unabhängiger wird, wird aber plötzlich mit folgenden Hindernissen konfrontiert:

    • Es wird einem bei der Neubeantragung der Sozialhilfe gesagt, dass man – als ERWACHSENER Mensch – zuerst einmal seine eigenen Eltern auf Unterhalt KLAGEN MUSS und dafür zum Gericht geschickt wird. Dabei wird außer Acht gelassen, dass viele oft kein gutes (oder überhaupt ein) Verhältnis zu den Eltern haben und/oder viele Eltern selbst vorbelastet sind und kaum Geld haben – dadurch wird man in eine psychisch überaus belastende Position gesteckt. Bis das dann alles mal gerichtlich geregelt wird, vergehen MONATE und bis dahin bekommt man KEIN Geld – man verschuldet sich also und landet wieder weiter in die Armuts- und Abhängigkeitsspirale. Erhält man dann den Bescheid, dass man Unterhalt bekommt, erfährt man als nächstes, dass einem dies auch noch gnädigerweise von der Sozialhilfe abgezogen wird. Also ist dieser ganze Prozess eigentlich nur dafür da, dass der Staat an seinen Ausgaben für Sozialhilfe (welche sowieso schon weniger als 1% aller Ausgaben ausmachen!) einsparen kann? Zumindest interpretiere ich das so.

    • Dann ist man also in einer teilbetreuten Einrichtung und erfährt dann per Sozialhilfebescheid, dass man angeblich – mit WILDFREMDEN Menschen – in einem gemeinsamen Haushalt lebt (was nicht stimmt, da jeder für seine Lebensunterhaltskosten selbst aufkommt!) und man deswegen und weil ja das Land auch in der Teilbetreuung für gewisse Kosten aufkommt (welche das sein sollen, ist mir nicht bekannt, da ich eigentlich für alles – außer das Personal – selbst aufkommen muss), einen reduzierten Betrag an Sozialhilfe (statt € 977,84 nur € 684,56) bekommt. Aber es wird noch besser: Hat man das Pech, in eine Einrichtung zu kommen, in der schon andere Bewohner Sozialhilfe beziehen, wird einem das auch noch angerechnet bzw. abgezogen – ab dem dritten Sozialhilfeempfänger im vermeintlich gemeinsamen Haushalt bekommt man dann nur mehr € 440,07!

    • Und zum Schluss erfährt man zufällig irgendwie auch noch, dass es anderen Sozialhilfeempfängern in anderen Bundesländern besser oder sogar noch schlechter geht und fragt sich, wie unfair und bescheuert das alles eigentlich ist und wie das überhaupt legal sein kann.

    Danke an die Armutskonferenz, BIZEPS, Caritas und alle anderen Organisationen und Privatpersonen, die darauf seit JAHREN aufmerksam machen und sich für uns einsetzen und DANKE FÜR NICHTS an die Politiker, die es einfach nicht interessiert (weil sonst hätten sie ja schon längst was dagegen unternommen) und es sogar schlimmer machen – dafür werdet ihr auch noch haufenweise bezahlt, schwimmt im Geld und lebt im Saus und Braus, bravo! :)
    Ich frage mich, wie ihr nachts ruhig schlafen könnt – ich könnte es jedenfalls nicht!