unmittelbar verfassungsrechtlich gewährleistete subjektive Rechte
Von skeptischen Insidern wurde stets behauptet, daß das Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen in Art. 7 Abs. 1 der Bundesverfassung (B-VG), der sog. Gleichheitsgrundsatz, keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Lebenssituation behinderter Menschen haben wird.
Dagegen meinten manche AktivistInnen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, daß man aus dem Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ auch unmittelbar verfassungsrechtlich gewährleistete subjektive Rechte ableiten könne.
Nun hat uns der Verfassungsgerichtshof (VfGH) in seiner Erkenntnis B2128/00 vom 27.11.2001 klar und unmißverständlich vor Augen geführt, daß sich aus diesem Satz tatsächlich ein subjektives Recht, nämlich, nicht wegen einer Behinderung gegenüber nichtbehinderten Menschen benachteiligt zu werden, ableiten läßt.
Der VfGH meinte in diesem Fall, daß nicht zu erkennen sei, aus welchem sachlichen Grund für die Gebührlichkeit von Sondernotstandshilfe zwar von den Erfordernissen der Arbeitswilligkeit und der Arbeitsbereitschaft abgesehen werde, also von Erfordernissen, die durch Willensentscheidung der betroffenen Person beeinflußbar sind, nicht aber auch von jenem der Arbeits- bzw. Berufsfähigkeit (die ja der willentlichen Einflußnahme entzogen ist).
Die Annahme der belangten Behörde – Landesgeschäftsstelle Wien des AMS -, daß das Gesetz dennoch so zu verstehen sei, setze § 39 Abs. 1 Z. 3 Arbeitslosenversicherungsgesetz in Konflikt mit dem Gleichheitssatz.
Wenn für die Zuerkennung einer derartigen familienpolitisch geprägten Sozialleistung zwar von der Erfordernis der persönlichen Arbeitsbereitschaft und -willigkeit abgesehen, jedoch an der Erfordernis der Arbeitsfähigkeit als Tatbestandsvoraussetzung festgehalten werde, dann sei die Wirkung dieser Tatbestandsvoraussetzung, daß arbeitsunfähige Behinderte nur wegen dieser Behinderung von dieser Leistung ausgeschlossen würden.
Bei diesem Verständnis geriete die in Rede stehende Regelung jedenfalls zu dem speziellen Gebot des Art. 7 Abs. 1 dritter Satz B-VG („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“) in offenen Widerspruch.
§ 39 Abs. 1 Z. 3 AlVG sei in verfassungskonformer Interpretation teleologisch zu reduzieren und daher so zu verstehen, daß es einem Anspruch auf Sondernotstandshilfe nicht hinderlich ist, wenn der Anspruchswerber nicht arbeits- bzw. berufsfähig ist.
Der VfGH wies auch ausdrücklich darauf hin, daß eine Bestimmung, die mehrere Interpretationen zulasse, entsprechend der ständigen Judikatur so zu interpretieren sei, daß es einen verfassungskonformen Inhalt ergibt. Sollte jedoch eine vom Gesetzgeber nicht bedachte, also planwidrige Lücke vorliegen, so sei diese durch Analogie zu schließen.
Diese Auffassung wurde aber nicht nur vom Verfassungsgerichtshof vertreten, sondern auch vom Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt, der ja auch schon im Jahr 1998 in vorbildlicher Weise die Arbeitsgruppe zur Durchforstung des Bundesrechts nach behindertendiskriminierenden Bestimmungen im Auftrag des damaligen Bundeskanzlers, Mag. Viktor Klima (SPÖ), leitete.
Der Verfassungsdienst zog in seiner Stellungnahme sogar die Analogie zur Interpretation der gleichartigen Regelung des Karenzgeldes, wo ebenfalls klargestellt sei, daß die Arbeits- oder Berufsunfähigkeit eines behinderten Menschen nicht zum Ausschluß von dieser Leistung führen dürfe.
Wenngleich diese Erkenntnis allein noch nicht Grund genug sein sollte, in wahre Begeisterungsstürme zu verfallen – der gesellschaftspolitische Umdenkprozeß ist trotz allem träge! -, so ist das doch ein deutliches Zeichen dafür, daß man diese – offensichtlich notwendig gewesene – Erweiterung des Gleichheitsgrundsatzes ernst nimmt.
Es wäre daher durchaus legitim zu überlegen, ob man nicht öfter als bisher den Verfassungsgerichtshof mit Behindertenbenachteiligungen konfrontieren sollte; sicherlich existieren noch viele Rechtsvorschriften, die durch die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes für behinderte Menschen durch BGBl. Nr. 87/1997 invalidiert sind, also verfassungswidrig wurden bzw. verfassungswidrig interpretiert werden.
Eines ist jedoch sicher: „Der Zug in Richtung Behindertengleichstellung ist – Gott sei Dank – nicht aufzuhalten, und Art. 7 Abs. 1 dritter Satz B-VG beginnt nun tatsächlich zu leben!“