Das Sparpaket in Deutschland zwang behinderte Menschen zu drastischen Mitteln

Die Aktion ging am Mittwoch, den 19.6.96 um 10.30 Uhr von der ISL (Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben e.V.) in Kassel aus.
Angesichts der drohenden Aushöhlung des Vorranges der ambulanten vor der stationären Hilfe für behinderte Menschen im Bundessozialhilfegesetz, die am 20. Juni 1996 im Vermittlungsausschuß beschlossen werden sollte, entschlossen sich Betroffene aus verschiedenen Städten Deutschlands, in den schwedischen Botschaften in Bonn, Berlin und Hamburg Asyl aus Angst vor drohenden Heimeinweisungen zu suchen.
Die Aktion ging am Mittwoch, den 19.6.96 um 10.30 Uhr von der ISL (Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben e.V.) in Kassel aus.
Nach den Vorstellungen des Bundestages und des Bundesrates sollte der im Bundessozialhilfegesetz verankerte Vorrang der ambulanten vor der stationären Hilfe davon abhängig gemacht werden, daß keine unverhältnismäßigen Mehrkosten entstehen. „Dies bedeutet für uns, daß diejenigen, die mehr Hilfe benötigen in Anstalten abgeschoben werden,“ erklärte Christa Pfeil, selbst von der Heimeinweisung bedroht.
Die Betroffenen haben sich deshalb für einen Asylantrag in der schwedischen Botschaft entschieden, da in Schweden, trotz erheblicher Kürzungen im sozialen Bereich 1994 ein neues Assistenzgesetz geschaffen wurde, durch das behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Anstalten und Heimen ermöglicht wird. Zudem sieht das Gesetz entgegen der bundesdeutschen Entwicklung den Abbau von Anstalten und Heimen vor.
Der schwedische Sozialminister vertritt außerdem den Standpunkt, daß gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, diejenigen, die zu benachteiligten Bevölkerungsgruppen gehören, mehr unterstützt werden müssen. Das heißt, nicht gleich viel und schon gar keine Kürzungen im Behindertenbereich, sondern eine Aufstockung der finanziellen Mittel.
„Wenn ich mir vorstelle, mein Sohn kommt in ein Heim, ich komme in ein Heim, ich finde das – also, da kann man sich nur noch einen Strick nehmen. Das kommt für mich gleich einer lebenslänglichen Knastunterbringung.“, eine Betroffene und Aktivistin.
Eine Änderung des Bundessozialhilfegesetzes wird für Schwerstbehinderte einen gravierenden Einschnitt ins Leben bedeuten.
„Im Prinzip müssen wir alles auf eine Karte setzen, so interpretiere ich das jetzt. Wenn definitiv das Gesetz, so wie es aussieht durchkommt – werde ich innerhalb kürzester Zeit wirklich nach Schweden, egal wie, ausreisen, alles auf eine Karte setzen und versuchen politisches Asyl zu kriegen. Denn im Gegenzug erwartet uns nur die Heimunterbringung“, ein Beteiligter, und: „Das bedeutet praktisch, daß mein Leben, so wie ich es kenne, aufhört. Ich hab halt vor kurzem noch meinen pflegebedürftigen krebskranken Vater bei mir aufgenommen, wollte jetzt grade eine größere Wohnung suchen, damit er die restliche Zeit bei mir bleiben kann. So gehen wir wahrscheinlich beide ins Heim.“
Über viele Jahre schrieb das Bundessozialhilfegesetz fest, daß eine Unterbringung im Heim nur akzeptiert werden kann, wenn andere Hilfen nicht möglich sind. Jetzt – im Zuge der Sparmaßnahmen – soll der entsprechende Paragraph geändert werden. Die augenblickliche Vorlage sieht vor, daß die Heimunterbringung angeordnet werden kann, wenn eine geeignete stationäre Hilfe zumutbar und eine ambulante Hilfe mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist.
Daß nach diesem Prinzip jetzt schon gehandelt wird, mußte Christa Pfeil erleben. Nachdem ihr vom Sozialamt die Kostenerstattung für die Pflegekräfte unzureichend gewährt wurde, ging sie vor Gericht. Der vom Gericht bestellte Gutachter bestätigte jedoch ihren Bedarf.
In Deutschland sind laut ISL schätzungsweise 500 Behinderte auf eine ambulante Betreuung rund um die Uhr angewiesen. Die, die sich aufgrund des bestehenden Bundessozialhilfegesetzes ein selbstbestimmtes Leben mit persönlicher Assistenz erkämpft haben, werden sich dieses Menschenrecht nicht nehmen lassen und haben den unsinnigen Sparmaßnahmen mit einer phantasievollen Aktion den Kampf angesagt.