Piergiorgio Welby ist tot. Sein Arzt hat auf seinen Wunsch hin die Beatmungsmaschine abgeschaltet. (Dieser Gastkommentar erschien am 23. Dezember 2006 in der Presse.)
Welby saß im Rollstuhl. Ich auch. Er wurde beatmet. Ich hänge an einer surrenden Beatmungsmaschine. Er war fast blind. Ich habe starke Sehprobleme. Er wurde künstlich ernährt. Ich lebe von einer gelblichen Sondennahrung, die in den Darm eingeführt wird. Er wollte sterben. Ich will leben.
Piergiorgio Welby ist tot. Sein Arzt hat auf seinen Wunsch hin die Beatmungsmaschine abgeschaltet. Wochenlang verkörperte der an Muskeldystrophie Erkrankte in den Medien Schicksal und Leid. Italienische Abgeordnete demonstrierten für ein Euthanasiegesetz. Das Gericht ist Welbys Ersuchen nach aktiver Sterbehilfe nicht nachgekommen und hat ihn „zum Leben verurteilt“ („Focus online“).
Auf der medialen Anklagebank stehen der Arzt, das Gericht und der Papst, der meint, dass das Leben allein von Gott genommen werden kann, da er es auch gegeben hat. „Lasst ihn doch sterben“, forderten auch Kommentare im Internet. Ganz Europa ist im Fieber einer Euthanasie-Debatte.
Die Illustrierte „Stern“ porträtierte in einer ihrer letzten Ausgaben zwölf deutsche Bürger mit Hochglanzfotos. Diese können ihre Bilder und die dazugehörigen Texte nicht mehr lesen, da sie laut „Stern“ schon gestorben sind. Sie haben „in Würde“ in der Schweiz ihrem Leben ein Ende gesetzt. Zwischen Deutschland und der Schweiz boomt der Sterbetourismus.
„Der Gesetzgeber schützt die Menschen.“ – „Aber er kriminalisiert sie in puncto Sterbehilfe“, kritisiert der „Stern“ die deutsche Gesetzgebung und fordert eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Belgien und Holland haben die Tore zur Euthanasie geöffnet. Rekordhalter sind die Niederlande mit 1886 Euthanasiefällen im Jahr 2004. Die liberale Haltung der Politik macht in den Niederlanden auch vor behinderten Babys nicht halt. Bislang durften Kinder ab zwölf Jahren aktiv von ihrem „Leiden“ erlöst werden, das scheint nicht ausreichend.
Er saß im Rollstuhl. Ich auch. Er wurde beatmet. Ich hänge an einer surrenden und pfeifenden Beatmungsmaschine. Er war fast blind. Ich habe starke Sehprobleme, erkenne nur schwer Gesichter und kann nicht mehr lesen. Er wurde künstlich ernährt. Ich lebe von einer gelblichen Sondennahrung, die direkt in den Darm eingeführt wird. Er wollte sterben. Ich will leben.
Wenngleich die Lebenssituationen durchaus ähnlich sind, unterscheiden sie sich in einem wesentlichen Punkt: Welby lebte offenbar seit Jahren im Krankenhaus, ich habe das Glück, zu Hause zu sein, was die Lebensqualität erhöht.
Es steht mir nicht zu, über das Leben anderer zu urteilen. Welbys Entscheidung, nicht mehr leben zu wollen, ist angesichts seiner progressiven Behinderung und der langjährigen Auseinandersetzung damit zu respektieren. Hinterfragungswürdig ist jedoch das inszenierte Medienspektakel und sein Wunsch, die persönliche Lebenssituation in ein Gesetz gießen zu wollen. Jeder, der Welby im Fernsehen sah, dachte sich, dass er nicht so leben möchte wie er. Auch zu mir sagen immer wieder Leute, dass sie sich nicht vorstellen können, so wie ich zu leben. Lebensqualität ist jedoch etwas sehr Relatives. In der jeweiligen Situation sieht die Sache anders aus. Der Wunsch, lieber tot zu sein als im Rollstuhl zu sitzen, ist leichtfertig geäußert. Doch auch auf vier Rädern kann man Glück und Liebe erfahren. Die negative Leidensdarstellung Welbys in den Medien stellt jedoch letztendlich das Lebensrecht aller behinderten Menschen in Frage.
Das Salzburger Ärzteforum für das Leben, ein Zusammenschluss von 330 Ärzten, welche sich mit ethisch-moralischen Fragestellungen auseinandersetzt, formulierte kürzlich folgenden Grundsatz: „(. . .) kein Arzt kann gezwungen werden, einen Menschen am Anfang oder am Ende des Lebens als therapeutische Option zu töten. Dies würde zutiefst dem über Jahrhunderte geltenden Berufscodex der Ärzte, nämlich dem Hippokratischen Eid, widersprechen, der die Ärzte ausdrücklich zum Dienst am Leben verpflichtet.“
Der Arzt hat auf der Seite des Lebens zu stehen. Er kann nicht zum Richter über Leben und Tod werden. Die Erfahrungen aus den Niederlanden zeigen, dass die aktive Sterbehilfe eine Eigendynamik besitzt. Angefangene Euthanasieverfahren sind nur mehr schwer abzubrechen. Zusätzlich führt die Vermischung von Leben retten und Leben beenden zu einem unerträglichen Gewissenskonflikt bei Arzt und Patient.
Oberärztin Sylvia Hartl, Pulmologie des Otto-Wagner-Spitals, antwortet auf den Sterbewunsch ihrer Patienten immer mit der Gegenfrage: „Was kann ich für dich tun, um deine Lebensqualität zu verbessern?“ Nahezu immer verschwindet der Sterbewunsch durch Schmerztherapie, die Schaffung von Kontakten zur Umwelt, Verbesserung der eigenen Kommunikationsmöglichkeiten (auch durch technische Hilfsmittel) oder die Schaffung eines integrierten Lebensumfeldes. Alle 25 mit einem Tracheostoma beatmeten und von ihr betreuten Patienten leben zu Hause und nicht in einem Heim. Eine ihrer Patientinnen besucht regelmäßig in Begleitung ihrer piepsenden Beatmungsmaschine Theatervorstellungen. Die Schauspieler gewöhnten sich nur schwer an die ungewöhnlichen Beifallsbekundungen. Ein mehrfach behindertes, beatmetes Kind wurde in der Caritas-Einrichtung „Am Himmel“ aufgenommen, die BetreuerInnen und LehrerInnen lernten mit der Beatmungsmaschine umzugehen. Das Kind, dem Ärzte keine Lebenserwartung mehr gaben, lebte dort noch viele Jahre glücklich und zufrieden.
Nur ein Mann aus Oberösterreich, bei dem Frau Oberarzt Hartl ärztliche Begutachterin war, muss nach Gerichtsbescheid in einem Pflegeheim leben. Niemand wollte für sein Leben die Verantwortung übernehmen. Während fast alle beatmeten Personen von ihren Angehörigen oder durch selbst eingeschulte persönliche AssistentInnen betreut werden, wurde diesem Mann jegliche Eigenverantwortung bei Gerichtsbescheid abgesprochen.
Die Frage, was der Einzelne der Gesellschaft wert ist, wird sich daran messen lassen, inwieweit eine 24-Stunden-Betreuung zu Hause möglich ist. Das Modell der Persönlichen Assistenz für die Betreuung zu Hause, wie es vom Otto-Wagner-Spital angeboten wird, scheint nicht nur praktikabel, sondern auch finanzierbar. Das Spital qualifiziert Laienhelfer durch ein gezieltes Schulungsprogramm. Der behinderte Mensch kann entscheiden, wer ihm wann, wo und wie assistiert, die Verantwortung über sein Leben bleibt so bei ihm selbst.
Diese Form des autonomen Lebens kommt aus Amerika, wo beatmete Patienten Heimstrukturen hinter sich ließen und sich selbst ein integriertes Leben organisierten.
Das Otto-Wagner-Spital erstellt derzeit ein Konzept für ein Weaning-Center. Das Modell soll nach einem amerikanischen Vorbild die Betreuung zu Hause verbessern: Schulungsmaßnahmen, ambulante Dienste, ärztliche Notversorgung und ein Onlinesystem, über das die Maschinen gewartet, programmiert und gegebenenfalls sofort ausgetauscht werden, sind Angebote, die das Krankenhaus der Zukunft bieten sollte.
Ein Leben im Pflegeheim, wie es der beatmete Oberösterreicher führen muss, soll durch dieses Weaning-Center und Persönliche Assistenz vermieden werden. Beim österreichischen Weg steht nicht die Frage nach dem selbstbestimmten Tod im Vordergrund, sondern nach einem selbstbestimmten Leben.
Nach Piergiorgio Welbys Tod überlegt nun auch Italien eine Patientenverfügung nach österreichischem Vorbild einzuführen. „Nicht durch die Hand, sondern an der Hand eines Menschen sterben“, wie es Kardinal König formulierte und durch die Hospizbewegung praktiziert wird, ist dabei richtungsweisend.