Ausgrenzung als Expertenmeinung

Ein Zeitungsständer mit verschiedenen Tageszeitungen. Bild, Frankfurter Allgemein, Neue Zürcher Zeitung und andere.

Ich habe 1996 Abitur gemacht. An einer Regelschule. In Deutschland. Wenn ich mir die Berichterstattung der dpa von heute anschaue, hätte man das vermutlich verhindern müssen. Zumindest muss es eine erhebliche Belastung für meine Lehrer und Mitschüler gewesen sein.

War es natürlich nicht, im Gegenteil. Ich habe vor allem die Oberstufenzeit sehr genossen, habe noch heute zu über der Hälfte meines Jahrgangs losen Kontakt und unsere Abizeitung ist für mich heute noch ein Zeugnis von Inklusion pur.

Dass Deutschland, was schulische Inklusion angeht, ein Entwicklungsland ist, dürfte sich unterdessen herumgesprochen haben. Als ich zur Schule ging, wurden nur 10 Prozent aller behinderten Kinder integrativ beschult. Heute – immerhin 17 Jahre danach – liegt die Quote bei 20 Prozent. Beeindruckend ist das nicht.

Gummibärchen die ein anderfarbiges Gummibärchen ausgrenzen
pixelio.de

In anderen Ländern sind die Zahlen genau umgekehrt – in Großbritannien gehen 80 Prozent aller behinderter Schüler an Regelschulen, Tendenz steigend. Andere Länder haben gar keine Sonderschulen mehr. Ich halte die schulische Inklusion für einen wichtigen Schlüssel dafür, um endlich eine bessere Teilhabe behinderter Menschen zu erreichen. Um so wichtiger ist es, dass die Medien ausgewogen über das Thema berichten.

Heute abend freute sich also der Landesdienst Südwest der dpa* auf Twitter über den am besten gedruckten Artikel des Tages und liefert damit einen schönen Beleg dafür, dass Abdruckrate nicht gleich Qualität bedeutet.

In fast 3000 Zeichen lässt die dpa den Vize-Chef der Bundesdirektorenkonferenz (BDK), Hugo Oettinger, gegen die schulische Inklusion behinderter Kinder wettern und Ängste verbreiten.

Nun ist es nicht neu, dass ein Teil der Lehrer- und Rektorenschaft den Untergang des Abendlandes herbeiredet, wenn es darum geht, behinderte Schüler an ihre Schulen zu lassen. Und natürlich ist es die Aufgabe von dpa, solch eine Meinung auch zu verbreiten. Aber ausgerechnet als dpa-Gespräch ohne Gegenrede eines Eltern- oder Behindertenverbandes oder mal die Fakten zu prüfen, die der Mann anführt?

Dass zum Beispiel die Beschäftigungsquote behinderter Menschen in anderen Ländern höher ist, was auch mit einer besseren Bildung dieser Gruppe zusammenhängt und dass sich der „Aufwand“, von dem er spricht, der sich ja angeblich nicht lohnt, beispielsweise volkswirtschaftlich vielleicht doch lohnen könnte. Und vielleicht hätte dem Text das Wort „UN-Behindertenrechtskonvention“ ganz gut getan – die ist nämlich der Grund, warum jetzt alle über (schulische) Inklusion reden.

dpa-Gespräche sind eine geeignete Textform, um einen Gärtner Tipps zur geeigneten Gartenpflege geben zu lassen. Sie sind sicher nicht geeignet, einen Einzelnen ohne jegliche Gegenrede für die Ausgrenzung einer Minderheit – in dem Fall behinderte Kinder – plädieren zu lassen ohne überhaupt mal eine Einordnung vorzunehmen.

*Transparenzhinweis: Ich habe bei dpa volontiert und als Redakteurin gearbeitet, bevor ich nach London ging.

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