„Barrierefreies Wien“ von Franz-Joseph Huainigg

Lebens- und Mobilitätsratgeber für behinderte Menschen - Falter Verlag, Wien 2011 (ISBN 978-3-85439-450-1), EUR 16,50. Eine Rezension.

Buchcover: Barrierefreies Wien
Falter Verlag

In der Ankündigung des Falter-Verlages wird dieser Stadtführer als Vorreiterprojekt angepriesen. Dem Titel nach zu schließen, würde ich mir einen klassischen Ratgeber für behinderte Menschen erwarten und vor allem Informationen zur Barrierefreiheit, damit zum Beispiel einem Städtetrip mit dem Rollstuhl nichts im Wege steht.

Da ist es schon befremdlich, in der Ankündigung zu lesen, dass es auch um Pränataldiagnostik gehen soll oder dass allen Ernstes die Frage gestellt wird, „wie es ist, wenn man sich in Wien in einen behinderten Menschen verliebt“.

Sind wir über unsere Behinderung definiert?

Wie ist es, sich in einen nicht-behinderten Menschen zu verlieben? Interessiert mich zum Beispiel als behinderte Touristin, wo ich einen integrativen Kindergartenplatz finde? Die Themen sind wichtig, aber ein Ratgeber für alle, die eine Behinderung haben oder deren Angehörige? Ich bin skeptisch. Also mache ich mich nicht ganz vorurteilsfrei an die Lektüre.

Das erste Kapitel nennt sich prompt „Trost und Rat für alle Lebenslagen“ – brauche ich als Touristin mit Behinderung Trost? Es wundert mich schon sehr, dass ein Selbst-Betroffener wie Herr Dr. Huainigg, der sich noch dazu seit Jahren für ein positiveres Bild behinderter Menschen in den Medien, das endlich nicht von Mitleid geprägt ist, einsetzt, einen solchen Titel seinem ersten Kapitel voranstellt. Das hat für mich Anklänge an Licht ins Dunkel. Aber ich lese weiter.

Für den Einstieg braucht man einen guten Magen

„Hauptsache, gesund!“ heißt es nämlich schon auf der nächsten Seite. Es geht nämlich gleich um die Pränataldiagnostik, einschließlich Spätabtreibung. Ob sich die Gäste meines Kunden, der ebenso wie ich einen Tourismusratgeber erwartet hat, in Wien willkommen fühlen mit so einem Einstieg? Ich wage es zu bezweifeln.

Vielleicht sollte man den Ratgeber von hinten beginnen, wäre mein Tipp nach vollständiger Lektüre. Im letzten Kapitel beschreibt nämlich Mag. Marlies Neumüller, die in die Rolle einer Touristin geschlüpft ist, einen Wien-Urlaub und ihre Unternehmungen und Erlebnisse. Das Tagebuch ist kritisch und amüsant.

Auch die Portraits von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, die in Wien leben, sind durchaus lesenswert. Schade, dass es immer noch Spezialbücher geben muss und wir uns offensichtlich mit unserer Behinderung in eine Schublade einordnen lassen. Ich wünsche mir sehr, dass ich die sehr umfangreichen Informationen zu einzelnen Sehenswürdigkeiten und wirklich guten Tipps irgendwann in ganz gewöhnlichen Reiseführern finde, in denen es einzig darum geht, wo meine Interessen liegen und die Informationen, die ich wegen meiner Behinderung brauche, einen angemessenen, also untergeordneten, Stellenwert haben.

Wahl der Begriffe

Was auch auffällig ist, ist die Wahl der Begriffe, die alles andere als einheitlich sind, da sie am Anfang des Ratgebers offensichtlich einfach als Werbeeinschaltungen übernommen wurden. Man findet unter anderem die Begriffe „Menschen mit besonderen Erfordernissen“, „Handicap“ oder „mit besonderen Bedürfnissen“ etc.

Beim Kapitel „Hilfe, ich werde diskriminiert“ (S. 65) kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass es anders ausgefallen wäre, hätte es nicht der Behindertensprecher einer Regierungspartei geschrieben. Es ist nämlich die Rede davon, dass mit dem Bundesbehindertengleichstellungsgesetz behinderten Menschen „ein wirksames Instrument gegen Diskriminierung in die Hand“ gegeben ist.

Mit etwas Hintergrundwissen und auch wenn Schlichtungsverfahren wirklich eine gute Form sind, einvernehmliche Lösungen zu finden, dürfte in einem objektiven Kapitel nicht verschwiegen werden, dass es nach dem Behindertengleichstellungsgesetz keinen Unterlassungsanspruch gibt.

Reality Check

Durchaus hilfreich sind die eingefügten Symbole für die unterschiedlichen Behinderungen. Unter dem Titel „Reality Check“ finden sich spannende, unterhaltsame Erlebnisberichte. Es gibt sicher Argumente, weshalb z.B. nur angegeben ist, ob ein behindertengerechtes WC vorhanden ist oder nicht, Informationen über Haltegriffe wären aber wünschenswert.

So gibt der Ratgeber einen sehr allgemeinen Überblick, was aufgrund der Fülle der Information eine nachvollziehbare Redaktionsentscheidung ist. Einheitliche Erhebungskriterien würden allerdings den Überblick verbessern. Es ist doch ein bisschen skurril, wenn eine ca. 15 cm hohe Stufe als „Türschwelle“ (S. 228) bezeichnet wird.

Witzige Ideen lockern diesen Ratgeber zwar auf, wie zum Beispiel der Gourmettest von Essen auf Rädern, aber oben beschriebene eindeutige „Färbungen“ der Beiträge schmälern den Gesamteindruck. Das haben die großteils lesenswerten Beiträge nicht nötig.

In diesem Sinne setze ich darauf, dass in hoffentlich absehbarer Zukunft auch solche Informationen selbstverständlich inklusiv angeboten werden.

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