Warum hat die Wirtschaftskammer die Frage der Barrierefreiheit beinahe 10 Jahre lang verschlafen? Ein Kommentar.
Am 31. Dezember 2015 laufen die Übergangsfristen des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGStG) bei baulichen Barrieren ab.
Dies kommt allerdings nicht überraschend, da das BGStG im Sommer 2005 beschlossen wurde und am 1. Jänner 2006 in Kraft trat. Im Rahmen der Verhandlungen wurden sehr lange Übergangsfristen zur Beseitigung von bestehenden baulichen Barrieren im Gesetz festgeschrieben.
Vor Beschlussfassung, also bis Ende 2006 – das waren 1,5 Jahre – musste die Wirtschaft überhaupt keine Barrieren beseitigen. Erst ab 1.1.2007 mussten erste Adaptierungsmaßnahmen gesetzt werden, wenn die Kosten dafür weniger als 1.000 Euro betrugen. Nach weiteren drei Jahren waren Maßnahmen mit Kosten bis 3.000 Euro vorgeschrieben, wieder nach weiteren drei Jahren bis 5.000 Euro.
Extrem sanfte „Übergangsbestimmungen“
Von der Behindertenbewegung wurde schon bei der Beschlussfassung des Gesetzes kritisiert, dass den Unternehmen damit über viele Jahre kaum Maßnahmen vorgeschrieben werden, weil diese als unzumutbar eingestuft wurden.
Ganz anders sah das die Wirtschaftskammer (WKO), die darin einen „gerade noch akzeptablen Kompromiss“ sah.
Was die Wirtschaft als „gerade noch akzeptabel “ empfand, bedeutete, dass diese Übergangsbestimmungen „als zumutbar“ nur Kosten zwischen 2 bis 3 Euro pro Tag ansahen.
Dies ist deswegen besonders empörend, weil im Gesetz bei den finanziellen Grenzen der Übergangsbestimmungen zwischen dem „Geißler ums Eck“ und einem Konzern nicht unterschieden wurde. Die meisten mittleren und größeren Unternehmen hätten die Maßnahmen aber aus der sprichwörtlichen Portokassa bezahlen können – mussten nun aber nicht und taten es daher auch meist nicht.
Zusätzlich umfangreiche Förderungen
Der damalige stellvertretende Generalsekretär der Wirtschaftskammer Österreich – und heutige Vizekanzler – Reinhold Mitterlehner hielt eine weitere Forderung fest: „Wenn in den Betrieben bauliche Barrieren rasch beseitigt werden sollen, muss es entsprechende Förderungen geben.“
Auch diesem Apell der Wirtschaft wurde großzügig nachgekommen. Das Sozialministerium förderte österreichweit Umbaumaßnahmen mit mehr als 26 Millionen Euro.
Trotz extrem langer und sehr sanfter Übergangsbestimmungen sowie vielen Millionen Euro Fördergeld des Sozialministeriums ignorierten die Wirtschaft und die Wirtschaftskammer das Gesetz aber weitgehend und nachhaltig.
Falscher Ansatz: Barrierefreiheit primär als Kosten gesehen
Statt Barrierefreiheit als Erschließen neuer Kundengruppen zu sehen bzw. auch als Qualitätsverbesserung für Kundinnen und Kunden, die davon profitieren (und das sind neben behinderten Menschen viele andere auch), läuft die Diskussion bei uns in Österreich leider gänzlich falsch.
Hier werden Investitionen in Barrierefreiheit primär als Kosten gesehen statt als Chancen. Die USA – und viele andere Staaten wie Italien oder Spanien – zeigen aber klar, dass Österreichs Wirtschaft mit ihrer ablehnenden Haltung am Holzweg ist.
Wirtschaftskammer als Interessenvertretung der Wirtschaft?
Entschied sich die Wirtschaftskammer in den ersten Jahren das Gesetz weitgehend zu ignorieren, schwenkte man später auf die Strategie um, es zu bekämpfen – (WKO: „sofortige Aussetzung der Schadenersatzdrohungen“)
Dann wollte man vertrödelte Jahre vergessen machen und forderte nachdrücklich eine Verlängerung der Übergangsfristen.
Zeitweise gab es im Jahr 2014 skurrilen Aktionismus der Wirtschaftskammer, dann Aussagen, dass Unternehmen kein zusätzliches Geld für Umbauten benötigen. Es wurde immer deutlicher und deutlicher: Die Wirtschaftskammer als „Interessensvertretung“ der Wirtschaft möchte einfach nicht, dass das Gesetz und damit die Verpflichtung zur Barrierefreiheit vollständig wirksam wird.
Irgendwann reichte es dann auch Sozialminister Rudolf Hundstorfer und er stellte im Herbst 2014 klar: Dem Wunsch der Wirtschaftskammer zur Verlängerung der Fristen wird nicht nachgekommen.
Die Kritik an der Wirtschaftskammer und die Versäumnisse der letzten 10 Jahre kamen nicht nur von den Behindertenorganisationen, auch Vizekanzler Reinhard Mitterlehner äußerste sich in einer ORF-Pressestunde dazu äußerst kritisch.
Eine hilfreiche Interessensvertretung der Wirtschaft hätte spätestens mit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2006 nachdrücklich die Chancen der Barrierefreiheit aufzeigen und allen Wirtschaftstreibenden tatkräftige Unterstützung (Beratung, Begleitung, Förderung, …) anbieten müssen.
Hektik zum Schluss
Und es kam daher nun, wie es kommen musste. Im letzten der zehn Jahre wurde die Wirtschaftskammer endlich verstärkt aktiv. Es wurden Informationsmaterialen wie „Barrierefreie Gestaltung von Geschäftslokalen“ oder „Barrierefrei im Geschäft – 20 Punkte“ beworben – und das ist gut so.
Wenige Tage vor Silvester verschenkte die Wirtschaftskammer Wien dann noch 100 mobile Rampen – korrekterweise mit dem Zusatz: „Mobile Rampen sind als Übergangslösung, oder wenn eine fixe Rampe technisch nicht möglich ist, zulässig.“
Und wie geht es weiter?
Es bleibt zu hoffen, dass nun wirklich alle Unternehmen erkennen, welche Maßnahmen noch zu setzen sind und diese auch umgehend setzen.
Interessant wird auch zu beobachten sein, wie sich die Wirtschaftskammer verhält, wenn sich nun die eine oder andere behinderte Person auf die nun vollumfänglichen Gleichstellungsrechte beruft. Sei es im Rahmen von Schlichtungen, sei es im Fall von gescheiterten Schlichtungen bei Gericht.