Seit Jahren schwelt ein kontraproduktiver Konflikt zwischen Frauen- und Behindertenverbänden.
Der aktuelle Streit um die „eugenische Indikation“ wird durch neue gentechnische Möglichkeiten wie der Prä-Implantations-Diagnostik in die nächste Etappe gehen. Die Chancen einer konstruktiven Zusammenarbeit werden hartnäckig negiert, stattdessen wird mit ideologischen Reflexen agiert. Der Versuch einer Konflikt-Analyse von Birgit Primig-Eisner.
Die Frauenbewegung hatte immer schon ein klares Ziel: Rechte von Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft durchzusetzen. Die „Rolle der Frau“ wurde und wird im Vergleich zur „Rolle des Mannes“ in der Gesellschaft definiert. Eine Aufhebung der Rollenbilder als Basis einer chancengleichen Selbstverwirklichung wurde und wird angestrebt.
Ganz anders die Behindertenbewegung: Sie entstand nicht nur wesentlich später, sie hatte auch eine gänzlich andere Ausgangsposition und damit verbunden andere Ziele. Nicht das „Rollenbild“ steht im Vordergrund, sondern das „Menschenbild“ als Grundlage für ein „Rollenbild“. Menschen mit Behinderung werden in der heutigen Gesellschaft nicht einfach in ihrer Existenz akzeptiert. Sie sind gezwungen, ihren „Nutzen“ für die Gesellschaft nachzuweisen. Ihr Lebensrecht wird in Frage gestellt.
Medizin macht Meinung
Die medizinische Technik ermöglicht es, Menschen mit bestimmten Merkmalen zu verhindern. In unserem Kulturkreis ist das Selektionsmerkmal „behindert“. In Indien ist das Merkmal „weiblich“. Ausgangspunkt für die Festlegung von Merkmalen ist die „Nützlichkeit“. Die Rechtfertigung der Anwendung der medizinisch-technischen Möglichkeiten wird in Gesetze gegossen.
Im Paragraph 97 des Strafgesetzbuches wird die Abtreibung eines möglicherweise behinderten Kindes bis unmittelbar vor Geburtsbeginn als straffrei definiert. Sosehr das zunächst zum Schutz der Frau gedacht war, sosehr wirkt sich dieser Passus mittlerweile auf eine gesamtgesellschaftliche Meinung aus und verkehrt sich für Frauen ins Gegenteil von Schutz: Wenn Frau ein Kind bekommt, dann hat es ein „qualitativ hochwertiges“ Kind zu sein.
Welches Kind den gesellschaftlichen Qualitätskriterien entspricht, entscheiden Männer. Die männlich dominierte Politik legt fest, für welches Kind Betreuungsplätze zur Verfügung stehen. Die männlich dominierte Politik legt fest, welche Unterstützung Mütter erhalten. Die männlich dominierte Politik sorgt dafür, dass Kindererziehen aus finanziellen und vielen anderen Gründen Frauen überlassen bleibt. Die männlich dominierte Ethik legt Menschenbilder fest und diskutiert Lebensrechte. Die männlich dominierte Medizin entwickelt Selektionskriterien von Menschen.
Die Leidtragenden sind Frauen: Sie sind es, die medizinische Untersuchungen und Eingriffe über sich ergehen lassen müssen. Sie sind es, die von allen Seiten unter Druck geraten, sich der Selektion zu beugen. Sie sind es, die ihre Karriere aufgrund fehlender Unterstützung opfern müssen. Sie sind es, die sich mit Vorwürfen überhäufen lassen müssen, wenn sie sich zur Wehr setzen.
Die Leidtragenden sind natürlich auch Menschen mit Behinderung. Sie kommen erst gar nicht zur Welt. Oder sie leben im Bewusstsein, einer Selektion gerade noch entkommen zu sein. Sie leben in einer Gesellschaft, die ihnen Chancen auf Selbstverwirklichung verweigert und die permanente Rechtforderung der eigenen Existenz einfordert.
Ein Kreis schließt sich: Um Rollenbildern zu entkommen, beugen sich Frauen männlichen Kriterien, um letztlich neue männliche Erwartungen zu erfüllen. Und eine immer stärker werdende Behindertenbewegung sorgt für zusätzlichen Druck.
Argumente werden zum Bumerang
Das am häufigsten genannte Argument zur Nutzung medizinisch-technischen Selektionsmethoden ist die Selbstbestimmung der Frau: Frauen hätten schließlich das Recht sich auszusuchen, ob sie sich der Mühe unterziehen wollen, ein behindertes Kind groß zu ziehen: Ja zur eugenischen Indikation. Frauen hätten natürlich auch das Recht, gar nicht erst mit einem behinderten Kind schwanger zu werden: Ja zur Prä-Implantations-Diagnostik.
Für die Einforderung dieser Rechte werden eine ganze Reihe von Argumenten geliefert. Sie laufen letztlich auf ein einziges Argument hinaus: Ein Kind ist generell ein Nachteil, wenn Frau die Grenzen der Rollenbilder sprengen will. Ein behindertes Kind ist ein doppelter Nachteil.
Die Rechte der Kinder werden nur dann zitiert, wenn es darum geht, Frauen in ihr traditionelles Rollenbild zurückzudrängen. Das klassische Beispiel: Das Baby habe ein Recht auf eine Mutter, die rund um die Uhr verfügbar ist, daher sei der Ausbau von Krippen und Kindergärten nicht notwendig. Das behinderte Kind hat gar kein Recht. Es hat noch nicht einmal das Recht, geboren zu werden.
Jene Frauen, die sich dennoch für ein Leben mit einem behinderten Kind entscheiden, müssen sich den immer wiederkehrenden mehr oder weniger dezenten Hinweis gefallen lassen, sie hätten dieses Kind ja nicht bekommen müssen. Ein Vorwurf, den auch jene Frauen hören, deren Kinder eine vorgeburtliche nicht feststellbare oder erst später entstandene Behinderung haben.
Die letztendlich logische Folge zeichnet sich ab: Die Streichung aller vorhandenen Unterstützungen für Frauen mit behinderten Kindern. Wer bedenkt, dass in manchen Staaten bestimmte Operationen ab einem gewissen Lebensalter nicht mehr finanziert werden, kann diese Folge nicht als undenkbar abtun.
Ein weiterer Kreis schließt sich: Für Kinder ohne Rechte werden niemals ausreichend Betreuungsplätzen geschaffen werden. Das Argument der doppelten Belastung und des Lebens im erzwungenen Rollenbild hält. Und die Kinder bleiben rechtlos.
Politik verhindert Diskussion
Eine wesentliche Rolle spielt die Frauenpolitik. Im Kampf gegen Rollenbilder werden immer neue Slogans erfunden, neue Bilder als „richtig“, „erstrebenswert“, womöglich „wahrhaftig“ deklariert. Politik ist nur erfolgreich, wenn sie mit simplen Slogans, simplen Bildern agiert. Das hat zweifellos auch im Bereich der Frauenpolitik zu Erfolgen geführt. Dennoch: „Mein Bauch gehört mir“ bringt immer noch Wähler(innen)stimmen. Wer differenzierter argumentiert, verliert WählerInnen, wird womöglich nicht wieder gewählt.
Gleichzeitig besteht immer die Gefahr, dass männliche Politik die Errungenschaften der Frauen wieder rückgängig macht. Die Angst vor dieser Gefahr ist groß.
Was folgt, sind als feministisch deklarierte Reflexhandlungen: Die „alten“ Forderungen und Slogans eignen sich hervorragend, um tiefer gehende Diskussionen erst gar nicht aufkommen zu lassen. Rollenbilder verkaufen sich gut, Menschenbilder nicht. Was folgt, sind auch unreflektierte Vermischungen von Themen, die nichts mit einander zu tun haben. Die Behindertenbewegung hat im Gegensatz zur männlich dominierten Politik die Fristenlösung nie in Frage gestellt. Dennoch wird von Frauenorganisationen die Gefahr einer Abänderung oder gar Abschaffung der Fristenlösung in der Diskussion um die eugenische Indikation als Argument missbraucht.
In den vergangenen Jahren ist der Einfluss der Behindertenbewegung auf die Politik enorm gestiegen. PolitikerInnen können es sich nicht mehr leisten, allzu laut gegen die Behindertenverbände aufzutreten. Das „soziale Image“ gewinnt für PolitikerInnen derart an Bedeutung, dass immer mehr Aktionen für Menschen mit Behinderung ins Leben gerufen und bei jeder Gelegenheit erwähnt werden.
Ausgestattet mit dieser „neuen Macht“ haben Behindertenverbände immer mehr Möglichkeiten, ihre Forderungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Eine der Hauptforderungen ist die Abschaffung der eugenischen Indikation. Der aktuelle Frauenminister hat reagiert – und ist zwischen die Fronten der Frauen- und der Behindertenbewegung geraten. Gibt er dem Druck der Behindertenbewegung nach, muss er mit heftigsten Reaktionen der Frauen rechnen. Gibt er den Frauen nach und beendet die Diskussion, wird ihm auch eine Behindertenmilliarde nicht vor massiver Kritik schützen. Er hat einen Weg gefunden, zu entscheiden, ohne weitere Proteste zu provozieren: Das Thema wird in ministeriellen Arbeitsgruppen unter Einbeziehung von Fachleuten diskutiert – ohne Zeithorizont.
Ein weiterer Kreis schließt sich: Im mühsamen Kampf der Frauen um die Erhaltung von Errungenschaften bleiben wichtige Diskussionen auf der Strecke. Neue und starke „andere Meinungen“ entstehen. Noch mehr Kraft wird investiert, noch schneller und reflexartiger wird reagiert, noch weniger Zeit für Diskussionen steht zur Verfügung. Letztlich gewinnt damit niemand.
Gemeinsamkeit bringt Durchsetzungsfähigkeit
Würden sich Frauen- und Behindertenverbände zusammenschließen, könnte eine ganze Reihe von Problemen gelöst werden – für Frauen und für Menschen mit Behinderung:
Die Abschaffung von Selektionsmethoden ist Ausgangspunkt, um gemeinsam den Ausbau von Unterstützungsmöglichkeiten für Frauen mit behinderten Kindern durchzusetzen. Die kritische Beobachtung weiteren medizinisch-technischen „Fortschritts“ kann Frauen und Menschen mit Behinderung vor neu entstehendem gesellschaftlichen Druck frühzeitig warnen, der Druck kann verhindert werden. Behindertenverbände hätten endlich die Chance, ein neues Menschenbild in der Gesellschaft zu verankern und in eine erste Rollenbild-Diskussion – womöglich am Vorbild der Frauenverbände – einzusteigen. Und Frauenverbände könnten auf ein neues Potential von behinderten Mitstreiterinnen zurückgreifen …