Behindertengleichstellung: Auch die Wirtschaft profitiert davon

Die Enquete "Barrieren behindern Leben" der Caritas der Erzdiözese Wien, BIZEPS und Blickkontakt präsentierte am 26. November 2003 in Wien spannende Details dazu.

Enquete: Barrieren behindern Leben
BIZEPS

Dreizehn Jahre Erfahrung mit dem „Americans with Disabilities Act (ADA)“, dem US-amerikanischen Behindertengleichstellungsgesetz, haben klar aufgezeigt, dass nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Wirtschaft auf der Gewinnerseite stehen, ihre ursprünglichen Ängste haben sich ins Gegenteil gekehrt.

„Gegen das Gesetz gab es zwei Einwände: Erstens, es werde die große Katastrophe über die Wirtschaft hereinbrechen, weil barrierefreies und behindertengerechtes Bauen zu viel kosten würde. Zweitens wurde prophezeit, dass eine Goldgräberzeit für Anwälte beginnen würde, weil behinderte Menschen auf der Basis des neuen Gesetzes bei jeder Gelegenheit ihre Rechte einklagen würden. Nach 13 Jahren wissen wir: Nichts von all dem ist eingetreten“, erklärte David Capozzi, Rollstuhlfahrer, Mitbegründer des ADA und Leiter des „United States Access Board“, einer unabhängigen Regierungsagentur, die für zugängliches Design verantwortlich ist.

In seinem Referat berichtete David Capozzi darüber, wie das ADA ein ganzes Land verändert hat:

  • bereits 93% der öffentlichen Busse sind für Rollstuhlfahrer zugänglich – 1990, als das Gesetz in Kraft trat, waren es erst rund 50%
  • bei einer Vielzahl von Geschäftslokalen sorgten kleinere Adaptierungen für eine verbesserte Zugänglichkeit
  • eine große Zahl von Gebäuden wurden zugänglich gemacht
  • ein großer Finanzdienstleister etwa bringt nun seine Berichte auch in Großdruck und in Brailleschrift heraus
  • im Telekommunikationsbereich wurde ein landesweiter Übertragungsdienst errichtet, der die Benützung eines rund-um-die-Uhr Telefondienstes für Menschen mit Hör- und Sprechbehinderungen ermöglicht.

Die größte Überraschung aber bot die Reaktion der Wirtschaft: Stellten viele Vertreter der Geschäftswelt noch vor Einführung des ADA oftmals die bange Frage: „Können wir uns dieses Gesetz überhaupt leisten?“, so geben sich nach der Einführung des Gesetzes immer mehr die Antwort: „Wir können es uns nicht leisten, dieses Gesetz nicht zu haben“.

Immer deutlicher stellte sich heraus, dass der durch das ADA herbeigeführte Abbau von Barrieren der verschiedensten Art immer mehr behinderte Kundinnen und Kunden zur Folge hatte und daher auch mehr Gelder in die Wirtschaft fließen ließ.

Behinderte Menschen waren auf einmal zu einer neuen Käuferschicht geworden und wurden auch entsprechend umworben. Das hat auch das Bild behinderter Menschen in der Öffentlichkeit entscheidend verändert: Sie waren auf einmal in der TV- und in der Zeitungswerbung präsent, in Versandhauskatalogen zu sehen und als Schaufensterpuppen zu besichtigen. Ein Stück Normalität war ins Land gezogen.

Bei Meinungsumfragen gaben knapp 70% der befragten Geschäfte an, dass die Kosten für kleinere Adaptierungen nicht mehr als 500 Dollar betragen hätten. Und 82% der befragten Unternehmen waren der Meinung, dass das ADA die Kosten seiner Umsetzung wert sei. Es stellte sich auch heraus, dass jeder Dollar, der für Verbesserungen der Ausgestaltung eines Geschäftes investiert worden war, ein Mehrfaches hereingebracht hat. Mittlerweile gehört es zum guten Ton in der Wirtschaft, dafür zu werben, dass ihre Angebote barrierefrei zugänglich und behinderte Kunden willkommen sind.

Auch die vorher befürchteten unzähligen Gerichtsverfahren sind ausgeblieben, weil die gerichtliche Klage im Gesetz als letztes Mittel vorgesehen ist, vor dessen Ergreifung erst alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft werden: die Information über die entsprechende Gesetzesstelle, die Beratung, die Hilfestellung durch Fachleute u.v.a.m. Daher gab es auch in den ersten zehn Jahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes im Jahresschnitt nur rund 200 Klagen. Das wären, umgelegt auf die Einwohnerzahl, in Österreich ganze 6 Klagen pro Jahr.

Nach dieser eingehenden Schilderung der Situation in den USA folgte ein Referat über die Situation von Menschen mit einer Lernbehinderung in Österreich – gehalten von Sandra Neubauer und Gerlinde Planinger. Anschließend erzählte Mag. Helene Jarmer (gehörlos) über die Diskriminierungen gehörloser Menschen im Bildungsbereich in Österreich.

Im Referat „Auf dem Weg zu einem Behindertengleichstellungsgesetz, Forderungen an den österreichischen Gesetzgeber“ wurde von Mag. Michael Krispl und Martin Ladstätter in einer sehr anschaulichen Art und Weise die aktuelle Situation in diesem Lande beleuchtet.

In der an die Referate anschließenden Diskussion mit Vertretern der Wirtschaft konnten erste Argumente und Positionen ausgetauscht werden und es erfolgte die Einladung der Wirtschaft zu einer Fortführung der Gespräche.

Diese Veranstaltung war wohl der Beginn eines für beide Seiten überaus wichtigen Dialoges, der hoffentlich auch für alle Beteiligten zu einem ähnlich positiven Ergebnis wie in den USA führen wird.

Auf der Enquete gehört:

„Für mich ist die rasche Verwirklichung eines Behindertengleichstellungsgesetzes in Österreich daher ein politischer Echtheitstest auch dafür, wie ernst es der Bundesregierung mit ihrem Anliegen ist, Barrieren abzubauen, wie ernst es ihr damit ist, die vorhandene Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und Integration zu fördern.“, erläutert Dr. Michael Landau, Direktor der Caritas Wien.

„Hier geht es um mehr, als um einen bloßen Akt guten Willens“ so Landau weiter. „Menschen mit Behinderung haben das Recht, an allen Bereichen der Gesellschaft teilhaben zu können und der Gesetzgeber hat die Pflicht, auf dieses Recht hinzuweisen und diesem Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. Ich halte diesen Punkt für essenziell: Es geht um Rechte, nicht um Mitleid!“

„Seit 2 Jahren mache ich eine Ausbildung zur Wohnhausexpertin für betreutes Wohnen bei NUEVA – Wien“, erzählen Sandra Neubauer und Gerlinde Planinger (beide haben eine Lernbehinderung) über ihre Ausbildung.

„Wir haben eine tolle Ausbildung gemacht mit 3600 Ausbildungsstunden. Unser Leben hat sich in eine lebenswerte Richtung gewendet, jetzt wollen wir arbeiten“, erzählt Planiger und Neubauer ergänzt: „Wir wollen nicht mehr zurück in die Beschäftigungstherapie. Wir haben unsere Chance genützt und sind auch ein großes Risiko eingegangen. Wir haben unsere Beschäftigungstherapieplätze aufgegeben. Uns wurde ein Job versprochen.“

„Wir wissen nicht wie es bei Nueva Wien weitergeht. Es ist alles völlig unsicher! Das macht uns zu schaffen und nervös“, berichten beide übereinstimmend.

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