Seit den 70er Jahren ist Volker Schönwiese in Selbsthilfe und Selbstbestimmt-Leben-Bewegung aktiv. Er spricht im Interview für BIZEPS-INFO und kobinet über Bilanz und Ausblick am Welttag der Menschen mit Behinderungen.
Der Professor am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck und Gründer der Internetbibliothek bidok erhielt für seinen außergewöhnlichen persönlichen Einsatz zur Förderung der Selbstbestimmung behinderter Menschen kürzlich den „Dr. Elisabeth Wundsam-Hartig Preis„.
kobinet: 3. Dezember: Wie lautet Ihre Bilanz zu 2012 und der Ausblick auf 2013 im Bezug auf die Behindertenpolitik in Österreich?
Schönwiese: Alles sehr zwiespältig. Klar gibt es prinzipielle Fortschritte, dass z.B. im nationalen Aktionsplan Ziele festgelegt werden, wenn sie auch nicht mit wirksamen Maßnahmen gekoppelt sind. Die Behindertenpolitik in Österreich leidet nicht nur daran, dass so viele Kompetenzen zersplittert bei den Ländern liegen, sondern auch daran, dass in Österreich Interessensverbände so stark die Politik bestimmen. Die Wirtschaftskammer fordert z.B. aktuell bei Neubauten weniger Lifte bauen zu müssen. Einzelne Bundesländer folgen diesem Druck schon und verschlechtern ihre Bauordnungen. Die Interessen von großen Trägern der Behindertenhilfe als Dienstleistungs-Unternehmen beeinflussen die Entwicklung der Behindertenhilfe entscheidender als unabhängige Selbsthilfe-Verbände und die Selbstbestimmt Leben Bewegung. Das war 2012 die Ausgangsbedingung und wird sie auch 2013 sein. Behindertenpolitik braucht einen sehr, sehr langen Atem
kobinet: Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen wird im deutschsprachigen Teil von Europa nur schleppend umgesetzt, monieren die Betroffenen. Haben wir zu wenig Geduld?
Schönwiese: Wir haben oft viel zu viel Geduld! Etwas mehr Aktionismus, Vernetzung und Versuche, andere Interessensverbände für gemeinsame politische Initiativen zu gewinnen, würde uns gut tun. Was uns vor allem dafür fehlt, ist Geld. Mit ehrenamtlicher Selbsthilfe ist es eben schwer konsequent Politik zu machen
kobinet: Die französische Filmkomödie „Ziemlich beste Freunde“ und die nach dem riesigen Erfolg im Kino erschienenen Bücher erreichen eine große Öffentlichkeit. Eine Chance der Bewegung für ein selbstbestimmtes Leben, dies zu nutzen?
Schönwiese: Ja, der Film kann in seiner Massenwirksamkeit helfen Alltagssituationen zu entspannen. Er verbessert damit Voraussetzungen für Politik, ersetzen kann er natürlich gar nichts. Er erinnert mich in seiner Bedeutung an den schon historischen Film „Einer flog über das Kuckucksnest“, der der Anti-Psychiatriebewegung in den 70er-80er-Jahren medial schon geholfen hat.
kobinet: Die digitale Volltextbibliothek bidok ist in 15 Jahren auf 1600 kostenlos zugängliche Beiträge aus Zeitschriften und Büchern, Berichte, Vorträge und wissenschaftliche Arbeiten über Integration und Inklusion angewachsen – ein Schatz für jeden, der nach Ideen und Argumenten für Aktionen sucht. Wird bidok schon genügend genutzt?
Schönwiese: Bidok ist sehr erfolgreich, was sich sicher nicht nur an den hohen Zugriffszahlen – 40.000 hosts im Monat – messen lässt. Wissen verbreitet sich über bidok über viele Schleichwege über alle mögliche Grenzen hinweg. Das entspricht meiner Vorstellung von einer offenen Universität, die Wissen nicht nur elitär oder als Anwendungswissen nicht nur für finanzkräftige Interessensgruppen erzeugt und verwaltet.
kobinet: Woran liegt es, dass die Inklusion in der Schule im deutschsprachigen Raum noch immer nicht flächendeckend umgesetzt ist?
Schönwiese: Politik in Österreich – für Deutschland und die Schweiz kann ich das nicht ganz so präzise sagen – heißt meistens Kompromiss im Sinne der Interessensverbände und Behörden und hat nicht so viel mit demokratischen Entscheidungen zu tun. Besonders gut zu sehen ist dies im Bereich Schule, der von der Lehrergewerkschaft und den Schulbehörden dominiert wird. Da sind nicht einmal die nach internationalen Standards normalsten Modernisierungen, wie die Ganztagsschule, ohne Probleme zu erreichen. Eine Inklusive Schule, die die Selektion der Kinder nach Leistung vermindern will, geht im Vergleich dazu viel mehr an die Substanz. Dementsprechend sind auch die Ängste und der Widerstand größer. Die demokratiepolitische Bedeutung der Forderung einer gemeinsamen Schule für wirklich ALLE Kinder ist nicht zu unterschätzen.
(Die Fragen wurden von Martin Ladstätter und Franz Schmahl gestellt.)