Behindertsein in Österreich

Im Oktober 1991 fand in der CSFR ein Kongreß zum Thema Behindertengesetzgebung statt. Ich hielt folgenden Vortrag:

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Zuerst möchte ich mich bei Ihnen ganz herzlich für Ihre Einladung bedanken und freue mich sehr, bei Ihnen sein zu dürfen.

Wir haben in den bisherigen Referaten meist vorwiegend Theorie gehört, die sich auch ganz gut angehört hat. Als behinderter Mensch erlebe ich jedoch die Praxis – und die schaut oft ganz anders aus.

Eines der größten Probleme in Österreich ist der Kompetenzenstreit zwischen Bund und Länder. Die Sozialgesetzgebung, und zum Großteil auch die Behindertengesetzgebung ist von Bundesland zu Bundesland verschieden, und seit Jahren sind wir behinderten Menschen der Spielball von Bund und Länder.

Ganz besonders in der Frage einer bundeseinheitlichen Pflegegeldregelung. D.h. Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung Hilfe im täglichen Leben brauchen (z.B. An- und Ausziehen, Toilette, Baden, …) sollen je nach Schweregrad ihrer Behinderung ein sogenanntes Pflegegeld in 7 Stufen ausbezahlt bekommen, um sich die notwendige Hilfeleistung dann organisieren und bezahlen zu können.

Das Wort Pflegegeld jedoch ist meiner Ansicht nach irreführend, weil „pflegen“ mit Krankenbett und damit mit kranken Menschen assoziiert wird. Wir sind aber nicht krank, sondern behindert. Und an dieser Stelle möchte ich noch hinzufügen, daß wir genau aus diesem Grund kein ausgebildetes Personal brauchen.

Jeder kann sich z.B. selbst anziehen, deswegen wird er auch mich anziehen können, wenn er das will und wenn ich die nötigen Anweisungen dafür gebe.

Doch zurück zu der Forderung nach einem bundeseinheitlichen Pflegegeldgesetz. 1986 wurde vom ÖZIV eine Petition mit über 63 Tsd Unterschriften im Parlament eingebracht. Danach wurde eine Arbeitsgruppe zum Thema „Pflegevorsorge“ im Sozialministerium installiert und nach Fertigstellung des Arbeitsberichtes konnte die Sache auf parlamentarischem Weg nicht weiter behandelt werden, weil sie im Sozialausschuß einfach nicht auf die Tagesordnung kam. Der Bund schiebt die Verantwortung auf die Länder und umgekehrt.

Im November 90 mußten behinderte Menschen zum Hungerstreik greifen, um ihren Forderungen mehr Ausdruck zu verleihen. Geändert hat sich bis jetzt nichts. (Anm. der Redaktion: Minister Hesoun legte im Herbst einen Gesetzesentwurf zum Bundespflegegeldgesetz vor und bis 31. Jänner 92 kann Stellung bezogen werden.

Leider schaut der Entwurf alles andere als gut aus, und wir müssen eisern weiter dran bleiben und für unsere Rechte eintreten, sonst waren alle bisherigen Bemühungen umsonst.)

Nach wie vor werden über 80 % der Hilfeleistungen und der schweren Pflegearbeit von Familienangehörigen verrichtet, natürlich überwiegend von Frauen. Die Familien werden einerseits ausgebeutet und die behinderten Menschen müssen andererseits in Abhängigkeit leben.

Ist die Familie nicht mehr da, dann bleibt nur mehr das Heim. Und das bedeutet für die Betroffenen eine Reduktion des Lebensraumes auf Bett und Nachtkästchen. Ich nenne es Euthanasie auf Raten.

Ich bin überzeugter denn je, daß nur durch zusätzliches Engagement von uns Betroffenen etwas bewirkt werden kann und daß wir mehr in die politische Arbeit eingreifen müssen.

Zur Behindertengesetzgebung möchte ich sagen, daß es meiner Meinung nach besser ist, diese Thematik ins allgemeine Recht einfließen zu lassen. Das wird dem Integrationsgedanken gerechter.

Wenn gesonderte Behindertengesetzgebung, dann darf sie auf keinen Fall auf Aussonderung beruhen, sondern sollte den Nachteilsausgleich als Prinzip haben. Dazu zwei Beispiele, die, so meine ich, zentrale Anliegen darstellen:

In Österreich ist es leider so, daß behinderte und nichtbehinderte Kinder nicht gemeinsam in den Kindergarten und in die Schule gehen. Sie haben keine Chance zu lernen, miteinander umzugehen. Die sogenannten nichtbehinderten Kinder werden erwachsen und ergreifen Berufe, werden z.B. Architekten und planen Häuser, in die wir nicht hinein können und Hemmschwellen und Vorurteile sind an der Tagesordnung.

Die sogenannten behinderten Kinder werden in Sonderinstitutionen gesteckt, natürlich nach Behinderungsarten getrennt. Nach der Schulzeit sollen sie plötzlich „integriert“ werden und sich in der „normalen“ Welt zurechtfinden.

Der zweite Bereich, der auch als Ausgangspunkt vieler Probleme gilt: bauliche Barrieren. Wir brauchen verpflichtende Gesetze, durch die es uns ermöglicht wird, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Das Anti-Diskriminierungsgesetz der Vereinigten Staaten wäre hier ein großes Vorbild.

Bei uns in Österreich hört man oft die Meinung – auch von Politikern! -, daß es sich gar nicht lohnen würde, behindertengerecht zu bauen, weil man doch kaum behinderte Menschen sehe und deswegen glaube, es gibt sie kaum. Ja, wie sollen wir denn hinaus können, wenn auf uns lauter Barrieren lauern!

Durch den Abbau dieser Barrieren könnten wir behinderte Menschen endlich präsent sein, und das wiederum würde enorm zur sogenannten Bewußtsseinbildung beitragen. Zu den baulichen Barrieren zähle ich auch die für uns nicht benützbaren öffentlichen Verkehrsmittel. Was sollen wir mit Ermäßigungen, wenn wir in die Verkehrsmittel nicht hineinkommen.

Das war jetzt viel Negatives. Ich wollte Ihnen zum Einen darlegen, daß im Westen auch nicht alles Gold ist, was glänzt und zum Anderen glaube ich, daß eine mögliche Antwort auf die gezeigten Probleme die Independent Living Bewegung sein kann.

Die IL-Bewegung nahm in den 60ern in den USA ihren Anfang. Diese Bewegung ist eine Bürgerrechtsbewegung der behinderten Menschen. Die Kernaussagen sind: „Wir sind Experten in eigener Sache“, „Wir sind nicht Patienten, wir sind nicht krank, sondern einfach nur behindert“.

Diese Bewegung griff natürlich auch auf Europa über, und es besteht ein „European Network on Independent Living„. Bei einem Treffen 1990 in Holland, verabschiedete das Netzwerk folgende Grundsätze:

  1. Selbstbestimmt Leben ist ein Prozeß der Bewußtseinbildung, der persönlichen Ermächtigung und der Emanzipation.
  2. Zur Verwirklichung dieses Zieles bieten wir eine gezielte Unterstützung und Beratung von behinderten Personen, die selbstbestimmter Leben wollen, an, und verwenden demokratische Grundsätze in unserer Arbeit.
  3. Als gleichberechtigte BürgerInnen müssen wir den gleichen Zugang zu den grundlegenden Dingen des Lebens haben.

    Diese beinhalten: Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Hilfsmittel, Dienstleistungen zur persönlichen Unterstützung, Bildung, Arbeit, Informationen, Kommunikation, Mobilität, Zugang zur physischen und kulturellen Umwelt, sowie das Recht auf Sexualität, zu heiraten, Kinder zu haben und auf Frieden.

  4. Die Initiativen für eine „Selbstbestimmt Leben Bewegung“ muß eine behinderungsübergreifende Bewegung sein, die sich für die Befriedigung der Bedürfnisse von allen behinderten Menschen einsetzt. Um dies zu gewährleisten, müssen wir uns von allen Vorurteilen befreien, die wir gegenüber Personen mit anderen Behinderungen als unsere eigene haben.
  5. Behinderte Menschen müssen ihre Bedürfnisse selbst beschreiben und Kompensationsmöglichkeiten selbst kontrollieren.
  6. Die Bürgerrechtsbewegung für ein Selbstbestimmt Leben Behinderter lehnt den Aufbau oder den Erhalt von Einrichtungen ab, welche Abhängigkeit hervorrufen.
  7. Behinderte Menschen müssen sich selbst in der Forschung, Entwicklung, Planung und im Treffen von Entscheidungen in allen Bereichen und Angelegenheiten, die ihr Leben betreffen, engagieren.

Noch kurz einige Worte zum Film mit dem Titel: „Aufstand der Betreuten“.

Der Autor des Films, Dr. Adolf Ratzka, schildert, wie er selbst durch das Vorbild eines schwerbehinderten Studenten, des Mitbegründers der inzwischen weltweiten Independent-Living-Bewegung Ed Roberts, den Weg aus dem Krankenhaus ins Studentenheim und schließlich zur Selbständigkeit schaffte.

An drei Beispielen schildert er die Philosophie und Praxis der IL-Bewegung für gleiche Bürgerrechte und eigenverantwortliches Leben behinderter Menschen: „Behinderung ist kein Schicksal, kein medizinisches Problem, sondern ein Problem politischer und persönlicher Macht, vor allem aber eine Frage des Bewußtseins.

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