Bei Lichte betrachtet

Am 7. Oktober 2014 feierte die Aktion Mensch im früheren Kino Kosmos in Berlin ihren 50. Geburtstag unter dem Motto "Schon viel erreicht - noch viel mehr vor". Ein Kommentar.

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Eine Rede von Bundespräsident Joachim Gauck, eine gut gestaltete und abwechslungsreich moderierte Bühnenshow, die bunte Gruppe der Gäste und die Möglichkeit zum Tanzen und sich Auszutauschen lieferten einen guten Rahmen für diesen Geburtstag. Im Lichte danach betrachtet macht sich kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul in seinem Kommentar Gedanken über die Bedeutung der Aktion Mensch, ihre Geschichte und Zukunft sowie über weitere Perspektiven für eine inklusive Gesellschaft.

Wer sich mit der Behindertenpolitik Deutschlands der letzten 50 Jahre beschäftigt, kommt an der Aktion Mensch, bzw. an der früheren Aktion Sorgenkind, nicht vorbei. Die 1964 gegründete Aktion Sorgenkind und heutige Aktion Mensch hat viel Geld eingeworben und damit viele Initiativen und Projekte angeschoben und gefördert. Auch die Behindertenbewegung hat davon später erheblich profitiert, um gesellschaftliche Veränderungen voran zu treiben.

Geschichte der Aktion Mensch

Die Geschichte der Aktion Mensch bringt es aber auch mit sich, dass gerade behinderte Menschen einen besonders kritischen Blick auf die Organisation richten. Denn viele Jahre lang wäre es völlig undenkbar gewesen, dass VertreterInnen der Behindertenbewegung zusammen mit VertreterInnen der Aktion Mensch irgend etwas feiern. Ganz im Gegenteil: lange Zeit herrschte eine erbitterte Feindschaft der Behindertenbewegung gegenüber der Aktion Sorgenkind. Denn wer lässt sich schon gern als Sorgenkind bezeichnen und in ein Klima des Mitleids drängen? Zudem verbergen sich hinter den vielen schönen Zahlen, die die Aktion Mensch mit Stolz präsentierte, auch viele Schattenseiten, die die Geschichte der Aktion Mensch im Lichte der damaligen Behindertenpolitik und des damaligen Zeitgeistes begleiten.

Während die Aktion Sorgenkind einerseits bereits zu Beginn ihrer Aktivitäten die menschenverachtenden Verhältnisse in Sondereinrichtungen der 60er Jahre und den Conterganskandal aufgriff, trug sie andererseits vor allem von den Wohlfahrtsverbänden gesteuert auch entscheidend mit dazu bei, dass wir heute in Deutschland noch mit vielen Sonderwelten zu kämpfen haben, die im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention alles andere als akzeptabel und zukunftsweisend sind.

Während in einer Reihe anderer Länder damals begonnen wurde, die Gleichstellung, Selbstbestimmung und Selbstvertretung behinderter Menschen zu fördern, trug die Aktion Sorgenkind mit den nicht unerheblichen Lotterie- und Spendengeldern damals flankiert von der staatlichen Politik zur Verfestigung der Aussonderung bei.

Der Bau von Werkstätten für behinderte Menschen, von sogenannten Heimen, Sonderschulen etc., die meist auf der grünen Wiese und möglichst fernab der heilen aufstrebenden Gesellschaft der damaligen Bundesrepublik errichtet wurden, war lange der Fokus der Aktion Sorgenkind. Systeme, mit denen wir heute verzweifelt ringen, sich endlich zu verändern, um ein Leben, Arbeiten und Lernen behinderter Menschen mitten in der Gemeinde und gemeinsam mit nichtbehinderten Menschen mit der nötigen individuellen Unterstützung zu ermöglichen.

Hinzu kommt die jahrzehntelange mediale Verbreitung des Sorgenkind-Images, das wir heute immer noch mühsam zu überwinden versuchen. Und nicht zu vergessen: Die Selbstvertretung behinderter Menschen war damals ein Fremdwort, wozu auch fast alle Eltern- und Wohlfahrtsverbände lange beigetragen haben. Es gibt also Gründe genug, die Politik und die Aktivitäten der Aktion Sorgenkind von damals zu verfluchen, auch wenn diese ein Spiegel der damaligen Zeit waren.

Andererseits hat sich die damalige Aktion Sorgenkind ab Mitte der 90er Jahre der Kritik behinderter Menschen und von einzelnen Verbänden gestellt und in einem nicht einfachen Reformprozess die Kurve hin zu einem neuen Denken über Behinderung genommen. Die Gründe dafür waren sicherlich vielfältig, aber man stelle sich einfach nur einmal vor, die Aktion Sorgenkind hätte mit ihrem damaligen Namen und Image ihren 50jährigen Geburtstag gefeiert. Im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention wäre dies ein spannender Abend geworden. Diejenigen, die damals trotz all ihrer lange gewachsenen Vorbehalte gegen die Aktion Sorgenkind und diejenigen, die sich aus den Reihen der Aktion Sorgenkind für längst überfällige Reformen eingesetzt haben, können ein Lied davon singen, dass dieser Veränderungsprozess nicht einfach war.

Dies erforderte damals nicht nur einen guten Glauben, dass die Veränderung möglich ist, sondern auch viel Kreativität und Kraft. Und auch viel Mut und eine gute Strategie gehörte damals mit dazu, diesen Veränderungsprozess voran zu treiben, denn diejenigen, die bei der Aktion Sorgenkind die Hosen an haben, waren und sind die Wohlfahrtsverbände. Also diejenigen, die die vielen Einrichtungen gebaut haben und heute häufig noch so betreiben, dass sie nicht selten genug Geld abwerfen, um ständig neue Sonderwelten zu schaffen und weiter zu expandieren.

Der Name der Aktion Sorgenkind wurde Anfang 2000 zu Aktion Mensch geändert, Aufklärungskampagnen wurden gefördert, die u.a. auch zu Gesetzesänderungen beigetragen haben, Respekt statt Mitleid wurde nun propagiert und die Förderpolitik wurde Stück für Stück umgekrempelt, weg von Sondereinrichtungen hin zu integrativen und inklusiven Projekten. Es entwickelte sich phasenweise sogar eine richtig gute Zusammenarbeit der Aktion Mensch mit der Behindertenbewegung. Manchmal konnte man in diesem Prozess sogar glauben, dass die Aktion Mensch der Zeit voraus ist und man Mühe hat, die Zivilgesellschaft dazu zu bringen, Projekte wie zum Beispiel zur Inklusion vor Ort zu beantragen und entsprechend umzusetzen.

Also alles prima?

Schön feiern und Schulterklopfen und weiter so? Nein, so ist es nicht ganz und das wurde am 7. Oktober 2014 Abend auch bei vielen Diskussionen deutlich. Viele Reformen wurden angeschoben, aber wie so oft steckt in der Behindertenpolitik und in der praktischen Lebenssituation behinderter Menschen der Teufel im Detail.

Dabei ist es sicher kein Detail, dass sich an der Herrschaftsstruktur der Aktion Mensch in all den Jahren nicht wirklich viel verändert hat. Die Wohlfahrtsverbände haben nach wie vor das Zepter in der Hand und sind zusammen mit dem ZDF Träger der Aktion Mensch. Der Deutsche Behindertenrat spielt dabei beispielsweise gar keine Rolle. Ein paar ausgewählte VertreterInnen von Behindertenverbänden dürfen im Kuratorium an der Entscheidung der Mittelvergabe mitwirken.

Das kann uns aber nicht in den Tiefschlaf einer schönen inklusiven Welt verfallen lassen, denn welche Frauenorganisation, welche Gewerkschaft, welche Bürgerrechtsorganisation würde sich eine solche Struktur der weitgehenden Nichtbeteiligung gefallen lassen. Und wir sollen uns dann Reden von gemeinsamem Miteinander auf gleicher Augenhöhe anhören?

Auch wenn wir mit derartiger oder anderer Kritik, wie zum Beispiel die Barrierefreiheit von Veranstaltungen noch verbessert werden kann, leicht in die Meckerecke gedrückt werden, ist es am 50. Geburtstag der Aktion Mensch auch wichtig, daran zu erinnern, dass die gefeierte Organisation ohne diese Zwischenrufe der verschmähten Meckerecke heute nicht da wäre, wo sie ist. Eine weitere Veränderung tut also Not – und das lange nicht nur bei der Aktion Mensch, sondern auch in anderen Organisationen, die für behinderte Menschen wichtig sind. Der von der internationalen Behindertenbewegung geprägte Slogan „Nichts über uns ohne uns“ hat also heute mehr Bedeutung denn je.

Wer eine Veranstaltung organisiert, der läuft immer Gefahr, dass andere alles besser wissen und anders machen würden. Die Kritik ist jedoch wichtig, um immer besser zu werden. So war der spontane Einwurf von Dr. Sigrid Arnade von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) völlig richtig, dass eine einzige Behindertentoilette viel zu wenig bei einer solch großen Veranstaltung ist. Beim Start der Aktion Grundgesetz wurden Ende der 90er Jahre extra Behindertentoiletten installiert.

Was gefehlt hat

Gefehlt hat aber vor allem die Würdigung derjenigen, die die Aktion Mensch entscheidend zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Dieter Gutschick, der langjährige Geschäftsführer und die Triebfeder der entscheidenden Veränderungen war zwar im Publikum, wurde aber von den Veranstaltern so gut wie nicht gewürdigt, Bernhard Conrads oder Norbert Müller-Fehling und Friedhelm Peiffer gehören hier auch mit dazu. Heike Zierden und Karl-Josef Mittler, ebenfalls entscheidende Triebfedern der damaligen Entwicklung aus den Reihen der Aktion Mensch wurden ebenfalls nicht erwähnt und hätten dies allemal verdient gehabt. So wie die vielen Menschen, die sich für die Veränderungen der damaligen Aktion Sorgenkind engagiert haben. Deshalb soll die Würdigung deren Engagements an dieser Stelle erfolgen.

Auch hätte es dem Bundespräsidenten gut angestanden, die Menschenrechte behinderter Menschen in Verbindung mit der UN-Behindertenrechtskonvention in seiner Rede mehr in den Vordergrund zu stellen, denn damit wäre seine Rede vielleicht eine richtig wegweisende Rede geworden. Natürlich hätte ein politischer Ausblick, wie zum Beispiel zum Bundesteilhabegesetz gut zum Punkt „Noch viel mehr vor“ gepasst, aber ob dies den schon oben erwähnten Wohlfahrtsverbänden so gut ins Konzept passt? Viel wurde also getan, einiges mehr wäre noch möglich gewesen!

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