Wann müssen wir sterben? Ein Arzt nahm meine Frau zur Seite und fragte, ob ich überhaupt noch leben will. Warum Sterbehilfe verboten bleiben muss. Kommentar für den Falter 44/07.
Sonntag Morgen serviert Claudia Stöckl auf Ö3 heißen Kaffee, Kipferl und eine Portion Gefühle. Was liegt näher, als den 70jährigen Altbundeskanzler Franz Vranitzky anlässlich seines 70sten Geburtstages nach dem Ende seines erfolgreichen Lebens zu fragen. Vranitzky darauf: „Ich gehe in ein Pflegeheim. Ich möchte niemandem zur Last fallen“.
Der behinderte Radiohörer verschluckt sich bei diesen Worten an der pürierten Frühstückssemmel, die ihm seine Frau löffelweise in den Mund schiebt. „Falle ich dir auch zur Last?“, frage ich mit schlechtem Gewissen. „Ab und zu bist du schon lästig“, lächelt meine Frau Judit, „aber ich bin froh, dass wir heute gemeinsam frühstücken können“.
Meine 5jährige Tochter Katharina nickt und lächelt: „Papa, soll ich dir Wasser nachfüllen?“. Sie öffnet den Behälter der Beatmungsmaschine und füllt steriles Wasser zur Befeuchtung der Atemluft ein. Das Gerät alarmiert piepsend „Schlauch offen“. Für einige Sekunden bekomme ich keine Luft.
Meine Gedanken wandern zu dem Kärntner Rechtsanwalt, der in der ORF Sendung „Im Zentrum“ seinen Mandanten verteidigt hat, welcher seine behinderte Frau zum Sterben in die Schweiz begleitet hat: „Durch die zunehmende Behinderung der Frau ging jegliche Lebensqualität verloren. Die Arme und Beine waren gelähmt, sie konnte nicht mehr alleine essen. Eine künstliche Beatmung war absehbar“, argumentierte der Rechtsanwalt die Vorgangsweise seines Mandanten.
Als mich die Ärzte im Krankenhaus Rosenhügel vor einem Jahr mit gelähmten Armen und Beinen und nach Luft ringend in einem ähnlichen Zustand sahen, nahmen sie meine Frau zur Seite und fragten sie: „Will der überhaupt noch leben?“ Meine Frau verstand die Frage nicht: „Natürlich will er leben, aber fragen sie ihn doch selbst.“
In einem Ärztegespräch wurde ich mit schwierigen Fragen konfrontiert: Wie weit sollen und dürfen die Ärzte medizinisch gehen? Will ich über eine Magensonde ernährt werden? Ist für mich eine künstliche Beatmung vorstellbar? Wirklich vorstellen konnte ich mir dies damals nicht. Doch ich flüsterte matt und mit leiser Stimme Judit den Auftrag an die Ärzte ins Ohr.
Judit wiederholte laut meine Worte: „Ich will leben, zurück zu meiner Familie und wieder beruflich tätig sein“. Kurz nach dieser mündlichen Patientenverfügung verschlimmerte sich mein Gesundheitszustand dramatisch, ich fiel in einen dreiwöchigen Tiefschlaf und erwachte danach mit einer künstlichen Beatmung. Ernährt wurde ich über eine Sonde. Katharina schließt den Wasserbehälter, ich bekomme von der Maschine regelmäßig meine Atemluft und kann wieder reden: „Danke Schätzle“.
Katharina setzt sich stolz zu ihrem Frühstück zurück. Heute bin ich glücklich. Ein Glück, das ich nicht erfahren hätte, wenn ich mich vor einem Jahr gegen das Leben entschieden hätte. Ich verurteile nicht die Entscheidung der Kärntner Frau, aber ich bedaure es, dass man ihr offensichtlich keine Alternativen zum „Freitod“ geboten hat. Wer ein Fahrticket in den Tod kauft, hat sich nicht mit den Angeboten der Palliativmedizin in Österreich auseinandergesetzt. „Nicht durch die Hand eines anderen sterben, sondern an der Hand“, formulierte Kardinal König einen Grundsatz, der zum Leitbild der Hospizbewegung geworden ist.
Der Psychiater Dr. Haller stellte in der Fernsehdiskussion die autonome Entscheidung für einen „freien“ Tod in Frage. Die Schmerzen, eine Perspektivenlosigkeit durch Depressionen, die Abhängigkeit von Betreuung und Pflege, sowie die Regelung des Erbes verunmöglichen eine wirkliche Entscheidungsfreiheit von Patient und Angehörigen.
„Ich will einen Angehörigen nicht zur Last fallen“, ist das häufigstgenannte Euthanasie-Argument in den Niederlanden. Nach amtlichen Angaben haben niederländische Ärzte im Jahr 2006 in 2.300 Fällen aktive Sterbehilfe geleistet. Zugenommen hat 2005 die Zahl der sogenannten palliativen Sedierung. 9.600 behinderte Menschen starben an Nahrungs- und Essensentzug während eines künstlichen Tiefschlafs. Es wird sogar die Euthanasie bei sozialem Leiden diskutiert (bislang nur körperliches & psychisches Leiden). Sterbehilfe ist in den Niederlanden auch für Minderjährige ab 12 Jahren möglich. Diskutiert wird die Euthanasie derzeit schon bei Neugeborenen durchzuführen.
Das Angebot des Schweizer Vereins Dignitas behinderte und schwerkranke Menschen in den „Freitod zu begleiten“, führt speziell von Deutschland aus zu einem Sterbetourismus. In der Schweiz selbst regt sich gegen die Vereinsaktivitäten zunehmend Widerstand. Sterbewohnungen mussten nach Protesten von Anrainern aufgekündigt werden, in zwei Kantonen wurde die Hilfe zum Selbstmord untersagt.
Der Verein Dignitas erwägt nun, die aktive Sterbehilfe in Wohnmobilen durch zu führen. In der Fernsehsendung „Im Zentrum“ erläuterte Dignitas-Gründer und -Geschäftsführer Ludwig A. Minelli den Weg der Schweizer Euthanasie: Ein Arzt studiert die Befunde und gibt „grünes Licht“. Wenn das Vereinsmitglied dann in die Schweiz zum Sterben kommt, wird ihm vor dem tödlichen Cocktail ein Magenschutzmittel gereicht. Beides muss der sterbenswillige Mensch selbst zu sich nehmen. „Der Cocktail schmeckt bitter“, so Minelli.
Der süße Tod kann bitter schmecken. Selbst bei einem Stück Schweizer Schokolädle, das die meisten Patienten nach dem Cocktail zu sich nehmen. Der letzte Genuss nach einer unwiderruflichen Entscheidung. Die Sterbehilfe durch den Verein Dignitas kostet „all inclusive der Urne, die den Verwandten zugeschickt wird, Euro 5000“, (Minelli, am 14.10.07 im ORF), „weniger als ein Tag Palliativmedizin“.
Diese Bewertung vom menschlichen Leben ist zutiefst abzulehnen und wurde zuletzt im Nationalsozialismus praktiziert. Die Kosten des Pflegeaufwandes wurden den Vernichtungskosten gegenübergestellt. Im oberösterreichischen Schloss Hartheim, bedeutete diese zynische und menschenverachtende Rechnung für 30.000 behinderte Menschen den Tod in der Gaskammern. Es wurden behinderte und pflegebedürftige Menschen aus dem gesamten deutschen Reich herbei transportiert und sofort getötet. Es gab in dem Schloss keine Pflegeeinrichtung.
Eine europaweite Euthanasie-Debatte ist nicht mehr zu verleugnen und wird durch Medienberichte über beatmete „Einzelschicksale“ geschürt. In Polen kämpft nun auch der 32jährige beatmete Janusz Switaj um sein Recht sterben zu dürfen. In einem Email-Austausch hab ich ihn gefragt: „Was müsste passieren, damit sie wieder Freude am Leben haben?“ Er schrieb zurück: Eine kleinere Beatmungsmaschine, damit er sein Bett verlassen kann, einen Job und Assistenz, die ihm ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.
Eine Euthanasie-Gesetzgebung in Österreich ist abzulehnen. Jegliche Euthanasie-Verfahren entwickeln eine Eigendynamik aus der behinderte Menschen nur mehr schwer aussteigen können. Ärzten muss die Aufgabe der Lebenserhaltung vorbehalten werden. Ihnen ein Entscheidungsrecht über Leben und Tod ihres Patienten aufzubürden, bringt unweigerlich Gewissenskonflikte mit sich. Nicht das selbstbestimmte Sterben, sondern das Recht auf ein selbstbestimmten Leben sollte in den Vordergrund der politischen Debatte gerückt werden.
Die Menschenwürde und ein Verbot auf aktive Sterbehilfe in der Verfassung ist zu verankern. Durch den Ausbau von Palliativ- und Hospizeinrichtungen soll ein würdevolles Sterben ohne Schmerzen gesichert werden. Die neuen medizinischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung dürfen nicht zum Fluch werden.
In der Patientenverfügung kann man derzeit schon festschreiben, auf welche lebenserhaltenden Maßnahmen die Mediziner verzichten sollen, wenn man selbst nicht mehr in der Lage ist, bewusste Entscheidungen zu treffen. Sie wird nach einer Studie im AKH derzeit nur von 5% schwerkranker Patienten genutzt. Hier braucht es eine vermehrte Aufklärung durch Ärzte. Das Gespräch zwischen Patient und Arzt über medizinische Möglichkeiten und Folgen sind heute wichtiger denn je.