Blindlings durch den Schnee

Eine ach so wahre Wintergeschichte, wie sie jeder erleben kann, der "blind" durch die Welt läuft, oder?

Blindlings durch den Schnee
Ulli Krispl

„Wenn das Christkind mich heute beobachtet und mich immer wieder so halblaut fluchen gehört hat, dann weiß es wohl, was ich mir als Geschenk unter dem Christbaum heuer wünsche …“, dachte Benni, als er noch immer leicht frierend im Kaffeehaus bei seiner Cognacmilch saß, dem gemütlichen Gemurmel lauschte und auf seine Frau Karola wartete. Benni hatte einen der „ganz normalen“ Wintertage erlebt, doch wurde ihm ausgerechnet heute so bewusst wie nie zuvor, dass das alles gar nicht so „normal“ war, wie er sich selbst immer eingeredet hatte. Dabei fing alles so schön an.

Als Benni am Morgen zum Frühstückstisch kam und den Wetterbericht hörte, da konnte er es zuerst gar nicht glauben; der Wettermann kündigte Schneefälle für heute untertags an und in Benni machte sich eine Mischung aus kindlicher Freude und leicht gequältem Grausen breit. Und das nicht ganz ohne Grund, hatte er doch in den vielen Jahren seiner „Blindflüge“ durch den Verkehrswahnsinn dieser „anderen“ Stadt seine leidvollen Erfahrungen machen müssen.

Als seine Frau Karola zu ihm in die Küche kam, fragte Benni bereits etwas säuerlich: „Liegt eigentlich schon Schnee draußen?“ Als Karola mit kaum geöffneten Traummännleinaugen hinausschaute und „nein“ gegen die Fensterscheibe gähnte, war er für´s erste beruhigt. Nun ließ sich der Kaffee wieder entspannt genießen und die Entspannung wurde noch einmal so groß, als Benni bewusst wurde, dass er heute ja nicht zur Arbeit musste, sondern erst am Nachmittag mit seiner Frau verabredet war, um mit ihr gemütlich eine etwas gehaltvollere Milch trinken zu gehen.

Als Karola die Wohnung verließ und ihm mit einem zärtlichen Küßchen einen schönen Tag wünschte, wusste er – Gott sei Dank – noch nicht, was in wenigen Stunden auf ihn zukommen sollte; wahrscheinlich hätte er dann schon präventiv zu fluchen begonnen.

Da er sowieso nichts Besseres zu tun wusste, ging er daran, die Betten zu machen und setzte sich dann an seinen „Freund und Informant“, den Computer. Nach einigen Stunden des Surfens wurde Bennis Konzentration jäh durch ein ihm allzu bekanntes Geräusch vor dem Haus zerstört. Monotones Kratzen und Motorengeräusche machten ihm klar was in den letzten Stunden abgegangen war; es hatte tatsächlich geschneit und die Hausbesorger nahmen den zumeist nicht zu gewinnenden Kampf gegen vereiste und verschneite Gehsteige auf. „Ok“, dachte Benni, „Alarmstufe 1 bis 2“.

Doch die Stunden verflogen und es war endlich Zeit für Benni, sich winterfest zu machen, den Blindenstock zu nehmen und sich „blindlings durch den Schnee“ zu arbeiten. Als Benni das Stiegenhaus hinter sich ließ und in den großen verschneiten Innenhof des Gemeindebaues trat, knirschte der frische Schnee unter seinen Stiefeln. Nur wenige Meter bräuchte er zu gehen, um auf den geräumigen Platz in der Mitte des Hofes zu gelangen, den er schräg überqueren musste, um zum Haupttor des Baues zu kommen. Doch da begann es bereits. Mit einem jähen Ruck bremste Benni ab, da auf dem Platz nur ein schmaler Pfad ausgeschaufelt war und er mit seinem forschen Schritt unvermutet auf einmal im aufgehäuften Tiefschnee stand. „Nun nur nicht zu weit gehen, sondern vorsichtig den ausgeschaufelten Pfad suchen“, dachte er und tastete behutsam mit dem Blindenstock rundum. Die Schuhe füllten sich allmählich mit Schnee und die Socken wurden feuchter und feuchter. „Ah, da ist er ja, der dämliche Weg.“ Nun hieß es, sich langsam an den kleinen Schneewächten weiterzutasten. Doch so unvermutet, wie er im tiefen Schnee steckte, zog es ihm ein Bein davon und er konnte nur um Haaresbreite ein Hoppala verhindern. „Ok, diese Eisplatte unter dem Schnee hätte wohl auch ein normalsichtiger Mensch nicht umgehen können“ tröstete er sich.

Endlich war das Haupttor erreicht, vor dem die ersehnte Busstation lag. Nach ca 20 Minuten kam der Bus, doch, wo sonst immer Leute ein- und ausstiegen, war ausgerechnet heute niemand. Jetzt ging die leidige Suche nach den Türöffnungsknöpfen des Busses an. „Wenn die Wiener Linien doch nur die Pipserln bei den Knöpfen angebracht hätten, wie wir uns das so oft gewünscht haben, dann wär das Finden des Knopfes jetzt kein wirkliches Problem“, dachte er bei sich. In der grimmigen Kälte die Handschuhe auszuziehen kostet schon Überwindung, doch dann mit der bloßen Hand auch noch an dem über und über mit Dreck bespritzten Bus entlangzutasten, um den flachen Knopf zu finden, der die Losung für den Einlass in das warme Innere des Busses darstellte, war eine echte Zumutung. Doch da geschah das Unglaubliche; noch bevor Benni den Türöffnungsknopf gefunden hatte machte der Bus einen plötzlichen Ruck und setzte sich einfach in Bewegung, als ob Benni gar nicht da gewesen wäre. Ein lautstarker Fluch kam ihm über die Lippen, der so überhaupt nicht in die stille und besinnliche Vorweihnachtszeit passte. Nach 10 Minuten kam der nächste Bus und offenbar hatte ein Weihnachtsengelchen Benni´s Fluchen erhört und schickte einen Menschen, der ebenfalls auf den Bus wartete und den verflixten Türöffnungsknopf betätigte. Endlich konnte sich Benni im stickigen und überfüllten Bus etwas aufwärmen, um dann die nächsten Abenteuer zu überstehen.

Am Ziel angekommen, stieg Benni aus und suchte die Hauswand, um daran entlang zu gehen. Der Weg, den er genau kannte, war einigermaßen gut geräumt und Benni beschleunigte seinen Schritt. Doch da spürte er plötzlich einen Widerstand mit dem Stock, merkte, dass er etwas davonschleuderte und bekam auf einmal einen ziemlich unsanften Schlag mit einem schweren Gegenstand auf seinen Kopf, der ob der Kälte zum Glück durch eine Haube geschützt war. Als Benni den ersten Schreck und Schmerz überwunden hatte, dämmerte es ihm; das musste eine von den dicken hölzernen Schneelatten gewesen sein, die die Fußgänger aus dem Gefahrenbereich der drohenden Dachlawinen fernhalten sollen. „Naja, wenigstens war es nicht eine von den neuen metallenen Stangen“, beruhigte er sich selbst.

Nun waren es nur mehr wenige Meter zum Kaffeehaus. Nur noch einen kleinen Platz vor einem Einkaufszentrum überqueren, und schon wäre es geschafft. Doch da, wo sonst völlig freie Bahn war und man sich nach Herzenslust auch in weiten Schlangenlinien bewegen konnte, stellte sich Benni jetzt eine unglaublich stachelige Barriere entgegen. Er versuchte ihr zunächst nach links auszuweichen – zwecklos. Dann versuchte er es nach rechts – unmöglich. „Super wär jetzt ein Buschmesser“, dachte er bei sich, als er sich schließlich in letzter Not seinen Weg mitten durch die zahllosen Christbäume, die dort feilgeboten wurden, bahnte. Doch während seines Waldspazierganges verlor Benni unbemerkt ein wenig die Orientierung und fand sich schließlich irgendwo, wo er, so meinte er zumindest, sicherlich noch nie war. Wenn er gewusst hätte, dass er über den abgesenkten Gehsteig mitten auf die Gleisanlage der Straßenbahn gekommen war, wäre er wohl nicht so „cool“ dahergestapft. Da erscholl in einiger Entfernung ein lautes und etwas hektisches Bimmeln. „Nun, Weihnachtsglocken stelle ich mir anders vor“, ging es Benni durch den Kopf und es begann sich ein etwas unangenehmes Ziehen in seinem Bauch bemerkbar zu machen. „Das Bimmeln der Straßenbahn könnte auch mir gelten; ok, doch wohin soll ich ausweichen, oder steh ich etwa gar nicht auf den Gleisen?“ Durch den Schnee konnte er das nicht spüren. Doch da hörte er die erlösenden hilfreichen Worte eines aufmerksamen Passanten: „Achtung, aufpassen!“ Nun war alles klar, oder? Plötzlich packte Benni jemand am Arm, zog ihn auf die Seite und er spürte nur noch den Luftzug der vorbeifahrenden Straßenbahn. Eine sanfte Frauenstimme versuchte ihn zu beruhigen: „Uff, das ist ja noch einmal gut gegangen.“ Die Frau begleitete Benni noch bis zum Kaffeehaus und zeigte ihm auch einen freien Tisch, nur auf einen Kaffee wollte sie sich nicht einladen lassen. So bedankte sich Benni so gut er konnte, zog sich die Jacke und die Haube aus und nahm dann mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung auf der gemütlichen Polstercouch Platz.

Als Benni dann noch immer leicht frierend bei seiner Cognacmilch saß, gingen ihm all diese „ganz normalen“ Erlebnisse durch den Kopf; und als ihn Karola dann auch noch mit einem lässigen „Hallo Spatz, hattest Du einen gemütlichen, schönen Tag?“ begrüßte, dachte er nur so bei sich: „Wenn das Christkind mich heute beobachtet und mich immer wieder so halblaut fluchen gehört hat, dann weiß es wohl, was ich mir als Geschenk unter dem Christbaum heuer wünsche: Eine weitestgehend barrierefreie Welt, Menschen, die mitdenken … und ein Behindertengleichstellungsgesetz!“

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