Buchpräsentation: „Verfolgte Kindheit“ Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialverwaltung

Man müsse jedenfalls Abschied nehmen von der Vorstellung, dass der Nationalsozialismus nur ein Betriebsunfall war, der im Jahr 1945 abgeschlossen wurde.

Buch: Verfolgte Kindheit
Böhlau Verlag

Die Nationalratspräsidentin Barbara Prammer stellte heute Abend im Parlament den von Ernst Berger herausgegebenen Sammelband „Verfolgte Kindheit“ vor, in dem in über 20 Einzelbeiträgen das Schicksal von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsheimen, psychiatrischen Anstalten und Fürsorgeeinrichtungen, und zwar vor, während und nach der NS-Zeit beleuchtet wird.

Die im Böhlau Verlag erschienene Publikation zeigt, dass sich das System der „Vernichtungspsychiatrie“ (Stichwort: „Spiegelgrund“) auf ein weitverzweigtes Netz stützte, welches das gesamte Fürsorgewesen umfasste und in der „schwarzen Pädagogik“ der NS-Zeit wurzelte.

Barbara Prammer begrüßte die zahlreichen prominenten Gäste und vor allem die Vertreter der Opfergemeinschaften der KZ sowie zahlreiche überlebende „Kinder“ vom Spiegelgrund. Gerade die Kinder und Jugendlichen waren von den Auswirkungen der rassischen Irrlehren des Nationalsozialismus am meisten betroffen, da sie einerseits die jüngsten und hilflosesten Opfer waren und andererseits nach dem Krieg am längsten miterleben mussten, dass das offizielle Österreich viele Jahre lang keine klare Haltung zu seiner eigenen Geschichte bezog.

Sie selbst habe während ihres Studiums eine Hausarbeit über Kinder in Konzentrationslagern geschrieben, und zwar zu einem Zeitpunkt, als sie selbst Mutter war, erklärte Prammer. Diese intensive Erfahrung habe sie noch bestärkt in ihrem Bemühen, den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, wie wichtig die Beschäftigung mit zeitgeschichtlichen Themen ist. Dies sei eine unerlässliche Voraussetzung dafür, um aufkeimenden Antisemitismus und Rassismus noch früher zu erkennen und dagegen aufzutreten.

Der Herausgeber des Sammelbandes, Universitätsprofessor Ernst Berger, skizzierte die Entstehungsgeschichte des Buches, dessen Vorarbeiten bereits im Jahr 2000 begonnen haben. Es sei bald klar geworden, dass die schrecklichen Ereignisse am Spiegelgrund nur die Spitze des Eisberges darstellten und dass hinter der Ermordung von behinderten und psychisch kranken Menschen ein viel weiter gespanntes System stand, das seinen Ausgang bereits im Fürsorgewesen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts nahm und personell und strukturell noch lange bis nach dem Ende des NS-Regimes weiterwirkte.

Im Laufe der Jahre entstand ein Netzwerk der Aussonderung und Vernichtung, bei dem es allen beteiligten gesellschaftlichen Institutionen darum ging, eine Trennung zwischen „brauchbaren und unbrauchbaren“ Menschen vorzunehmen. Auch wenn der interdisziplinär angelegte Sammelband auf sehr viele unterschiedliche Facetten eingeht, wurde das Thema sicherlich noch nicht erschöpfend behandelt, meinte Berger.

Man müsse jedenfalls Abschied nehmen von der Vorstellung, dass der Nationalsozialismus nur ein Betriebsunfall war, der im Jahr 1945 abgeschlossen wurde. Wir müssen auch heute eine ganz besondere Aufmerksamkeit darauf legen, dass diese Trennung zwischen brauchbarem und unbrauchbarem Leben nicht wieder Platz greife, unterstrich Berger.

Gerhard Botz, Historiker am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien, befasste sich in seinem Beitrag mit der Unrechtstruktur im Nationalsozialismus und dem fehlenden Unrechtsbewusstsein vieler Menschen zu jener Zeit. Die Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin berichtete von den Gesprächen mit Überlebenden der Opfer vom Spiegelgrund und von den verschiedenen Blickwinkeln, die aus diesem Gesprächsmaterial gewonnen wurden.

Ausführlich und sehr emotionell beschrieb Brainin ein solches Gespräch. Sie betonte die bis heute anhaltenden Qualen der Überlebenden und hob die Bedeutung ihrer Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus hervor. Herwig Czech, Historiker und Mitarbeiter im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, thematisierte die gerichtliche Aufarbeitung der NS-Zeit in den Nachkriegsjahren. Czech setzte sich vor allem mit dem am Steinhof tätigen Arzt Heinrich Gross auseinander, der trotz seiner Beteiligung an der Ermordung vieler Kinder nach dem Krieg, so wie viele andere Täter auch, seine gesellschaftliche Karriere fortsetzen und viele Jahre als Psychiater, Gerichtsgutachter und Pathologe arbeiten konnte.

Verfolgte Kindheit

Die zeitgeschichtliche Forschung der letzten Jahre hat mehrfach die Rolle thematisiert, welche die Psychiatrie in der Tötung behinderter und psychisch kranker Menschen spielte, etwa im Fall des berüchtigten Heimes „Am Spiegelgrund“. Die interdisziplinäre Publikation „Verfolgte Kindheit“ versucht nun aufzuzeigen, dass das System der „Vernichtungspsychiatrie“ nur im Kontext des gesamten Fürsorgewesens des NS-Systems zu verstehen ist.

Die dort praktizierte „schwarze Pädagogik“ hat ihre Wurzeln in eugenischen und utilitaristischen Diskursen, welche die Entwicklung der Kinder- und Jugendfürsorge seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert begleiteten. Eine zentrale Stellung nahmen dabei Methoden der Intelligenzmessung ein, durch die das Entwicklungspotenzial von Kindern und Jugendlichen quantifizierbar gemacht werden sollte. Ursprünglich verfolgte die Intelligenzmessung sozialreformerische Absichten.

Entwicklungsstörungen, welche Kinder aus Gründen sozialer Benachteiligung aufwiesen, sollten von „angeborenen“ Defiziten unterschieden werden. Das System der Fürsorge diente damit aber auch erklärtermaßen utilitaristische Zwecke, da man verhindern wollte, dass die Gesellschaft die Folgekosten von Verwahrlosung (Kriminalität, verminderte Arbeitsfähigkeit) zu tragen habe.

Die NS-Fürsorge trieb diese Vorgaben auf die Spitze, indem sie Menschen mit körperlichen und psychischen Defiziten ausschließlich als „Belastung“ des Gemeinwesens definierte und sie als „lebensunwert“ der Vernichtung preisgab.

Die Arbeiten des Sammelbandes behandeln die theoretischen Grundlagen der Kinder- und Jugendfürsorge, insbesondere die Entwicklung der Methoden zur „Intelligenzmessung“, die Entwicklung des Fürsorgesystems der Gemeinde Wien ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, den institutionellen Ausbau während der Zwischenkriegszeit und die Eingliederung der Institutionen in das System der NS-Fürsorge nach 1938. Das Schicksal der Opfer und die Probleme der Überlebenden dieses Systems nach 1945 wird anhand von zahlreichen Fallgeschichten illustriert.

„Verfolgte Kindheit – Kinder und Jugendliche als Opfer der NS- Sozialverwaltung“. Ernst Berger (Hg.) – mit Beiträgen von Gerhard Benetka, Ernst Berger, Regina Böhler, Elisabeth Brainin, Regina Fritz, Vera Jandrisits, Marie Luise Kronberger, Peter Malina, Clarissa Rudolph, Samy Teicher. Wien: Böhlau, 2007.

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