Buchtipp: „Geerbtes Schweigen. Die Folgen der NS-‚Euthanasie‘“

In den Jahren 1939 bis 1945 sind bis zu 300.000 Menschen im Rahmen der NS-„Euthanasie“ ermordet worden. Die wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Aufarbeitung steckt - in Österreich - noch in den Kinderschuhen.

Buch: Geerbtes Schweigen
Otto Müller Verlag

Bernhard Gitschtaler hat es sich in dem Otto Müller Verlag erschienenen Buch zur Aufgabe gemacht, das jahrzehntelange Verschweigen und Verdrängen zu brechen und heute lebende Angehörige von damaligen NS-„Euthanasie“-Opfern bei ihrer Suche und Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte unterstützend zu begleiten.

Neben seiner wissenschaftlichen Betätigung ist der Politikwissenschaftler Bernhard Gitschtaler, Obmann des Vereins „Erinnern Gailtal“. Ziel des Vereins ist es unter anderem, „die Opfer des NS-Systems in und aus dem Gailtal zurück in die kollektive Erinnerung zu rufen.“

Einzelne Puzzle-Stücke ergeben ein nachvollziehbares Ganzes

Bernhard Gitschtaler gelingt es in seinem Buch sehr gut, wichtige Sachinformationen vorab darzustellen, um dann im zweiten Teil exemplarisch auf vier konkrete Familiengeschichten näher einzugehen.

Zunächst setzt er sich mit den historischen und gesellschaftspolitischen Hintergründen der NS-Euthanasie sowie mit den „Spezifika des Österreichischen Gedächtnisses“ (Gedenkkultur, Opferthese, Causa Waldheim) auseinander. Beleuchtet wird auch „die Familie als Ort der Geschichtskonstruktion, des Verschweigens und der Auseinandersetzung“. Gefolgt von Basisinformationen zur zentralen und dezentralen „Euthanasie“ in der NS-Zeit und den Besonderheiten der Gruppe der „Euthanasie“-Opfer.

Bernhard Gitschtaler geht auch auf den Begriff „Trauma“ ein und erklärt, was das „bio-psycho-soziale Modell“ mit dem Thema zu tun hat.

Transgenerationale Trauma-Übertragung

Die heute lebenden Angehörigen von damaligen „Euthanasie-“ Opfern haben in vielen Fällen mit den Traumen, die damals durch das Wegholen, Einweisen und Ermorden eines kranken und/oder behinderten Familienmitglieds, entstanden sind und von Generation zu Generation weitergegeben wurden, noch immer zu kämpfen. Nicht wenige Angehörige waren damals auch als Mit-Täter verstrickt.

Die vier vorgestellten Familien, die Gitschtaler befragt, aber auch begleitet und unterstützt hat, lassen Gemeinsamkeiten und Muster erkennen. Gitschtaler hat versucht, – wenn möglich und von den Beteiligten gewollt – mit Familienangehörigen aus 3 Generationen zu sprechen. Er zeigt in seinen Interview-Analysen Parallelen und Unterschiede auf und stellt Zusammenhänge zu Erkenntnissen aus den vorherigen Kapiteln dar.

Was hat das mit mir zu tun?

Die Opfergruppe der NS-„Euthanasie“ wird bei uns auch heute noch totgeschwiegen. Es ist wichtig, daran zu erinnern. Es ist wichtig, Schicksale zu erzählen und möglichst viele Namen öffentlich zu machen, um den ermordeten Menschen zumindest so ein Stück weit ihre Würde zurückzugeben.

Kontinuitäten des NS gibt es auch in ideologischer, personeller und institutioneller Hinsicht. So waren z.B. mit dem Tag der Befreiung (8. Mai 1945) die Nazis nicht einfach verschwunden. Oder: An diesem Tag wurden zwar die Konzentrationslager befreit, das dezentrale Morden in „Anstalten“ ging jedoch noch länger weiter.

Bernhard Gitschtaler u.v.a. weisen auf die starken wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Parallelen von damals und heute hin: „Mit der aufkommenden Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren wurde die Versorgung ‚Minder-wertiger‘ immer stärker hinterfragt und kritisiert. Eine Mahnung für die Gegenwart“ ( Seite 56).

Gitschtaler zitiert in diesem Zusammenhang auf Seite 60 auch Michael Wunders „Die alte und die neue Euthanasiediskussion 2013“: „Die sogenannte Euthanasie stellt einen ‚Höhepunkt‘ eines langen, gesellschaftlichen Prozesses dar. … Gefördert wurde von den Nazis jedoch ein Wahn, der nur mehr streng definiertes ‚gesundes‘ Leben duldete. Auch heute erhalten Debatten rund um die sogenannte Sterbehilfe, Palliativ- und Hospizmedizin wieder Aufschwung und Aktualität, wenn angesichts immer größeren Spardrucks im Sozialbereich, Sterbehilfe in der heuten ‚Leistungsgesellschaft‘ diskutierbar oder in manchen Ländern gesetzlich erlaubt wird.“

Mein Fazit

Ein hervorragendes Fachbuch für Insider, aber auch für an dem Thema Interessierte oder für Menschen, die ihre Familiengeschichte aufarbeiten möchten.

Mein einziger Kritikpunkt: Die Interviews hätten m.E. etwas mehr Raum einnehmen können. Die Lektüre dieses Buches ist alles andere als leichte Kost. So wird wohl jede Leserin bzw. jeder Leser an seine eigene Familiengeschichte und die Rolle seiner Vorfahren während des NS erinnert oder angeregt, sich damit stärker auseinanderzusetzen. Es ist ratsam, zwischendurch Pausen einzulegen und auf genügend Abwechslung zu achten.

Mit den Schlussworten von Bernhard Gitschtaler (Seite 212) möchte auch ich meine Buchempfehlung beenden: „Es liegt in der Verantwortung einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft, Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten die notwendige Unterstützung zur Verfügung zu stellen, ohne die Betroffenen zu bevormunden. … Gleichgültigkeit und die ‚Normalisierung‘ der Ausgrenzung von Menschen niemals wieder aufkommen zu lassen, ist der immerwährende Auftrag an jede demokratische Gesellschaft. Ein Auftrag an uns alle.“

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