Was bleibt vom "Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen"? Der Ärger über politische Hinhaltetaktik, die Freude über mediale Präsenz - und die hartnäckige Hoffnung auf mehr Sensibilität.
Das Gleichstellungsgesetz ist noch nicht annähernd fertig. Die Unfallrentensteuer wird noch immer kassiert. Das Pflegegeld wurde nicht valorisiert. Die Werkprämie wurde gestrichen. Die Ethikkommission wurde unverändert beibehalten. Aber: Die Caritas macht aus Nächstenliebe Interessenvertretung. Die Ärztekammer denkt über barrierefreie Praxen nach. Die Sozialpartner überwinden ideologische Grenzen. Und bei Starmania darf ein Finalist über seine Behinderung blödeln.
Das noch nicht ganz zu Ende gegangene Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen wurde bereits kritisiert, als es noch nicht einmal angefangen hatte. In Erinnerung an das UNO-Jahr 1981 wollten die AktivistInnen der Behindertenorganisationen nicht wieder als dekorative Elemente der Visualisierung politischer Sprechblasen dienen. „Nichts über uns ohne uns“ war das vielzitierte Motto.
Am Ende des Jahres gibt es erneut Kritik. „Unsere eigentliche Arbeit beginnt erst jetzt,“ ließ Minister Haupt bei der europäischen Abschlusskonferenz in Rom wissen. Er hatte sich mit dieser Aussage vermutlich nicht darauf bezogen, dass alle Vorhaben für 2003 zu Beginn des Jahres gründlich verschleppt wurden. Bis endlich eine Kommission zur Vorbereitung eines umfassenden Gleichstellungsgesetzes einberufen wurde, war es Mitte Mai. Kein Wunder also, dass dieses Gesetz nun erst im Stadium der „Vorbegutachtung“ ist: Es wird jetzt, so der Minister im Sozialausschuss am 10. Dezember, an die Behindertenverbände weitergeleitet.
Gleichstellung sollte auch die EU-Richtlinie 2000/78/EG „zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Bereich Beschäftigung und Beruf“ bringen. Am 2. Dezember endete die Umsetzungsfrist. Im Mai legte das Wirtschaftsministerium einen Änderungsvorschlag für das Gleichbehandlungsgesetz von Frauen vor, in dem die Richtlinie eingearbeitet war – allerdings so schlecht, dass die Behindertenorganisationen heftig protestierten.
Die Folge: Gleichstellung von Menschen mit Behinderung wurde kurzerhand aus dem Papier eliminiert. Im November hat Sozialminister Haupt versprochen, die Richtlinie in einer Novelle des Behinderteneinstellungsgesetzes umzusetzen. Der aktuelle Stand: Nur Österreich und Griechenland können diesbezüglich gar nichts vorweisen.
Nicht eingehaltene Versprechen füllen viele Seiten kritischer Berichte.
Thema Nummer 1: die Valorisierung des Pflegegeldes. Ob die Versuche des Ministers nur halbherzig waren oder es an seiner Durchsetzungskraft mangelte: Tatsache ist, dass Bezieher von Pflegegeld immer weniger selbst über notwendige Assistenz bestimmen können, weil sie immer weniger leistbar ist.
Thema Nummer 2: die Unfallrentenbesteuerung. Erst am 3. Dezember wurde ein Initiativantrag des SPÖ zur Abschaffung und Rückerstattung von den beiden Regierungsparteien abgelehnt – am internationalen Tag der Menschen mit Behinderung.
Entgegen aller Versprechungen wurden auch Verschlechterungen eingeführt. Die radikalen Kürzungen im schulischen Bereich haben dazu geführt, dass der Integrationsauftrag kaum mehr erfüllt werden kann. Die Streichung der Werkprämie gefährdet die Konkurrenzfähigkeit integrativer Betriebe. Die Bundessozialämterreform hat Leistungen auf die Länder übertragen, die nun unterschiedlich gehandhabt werden. Und, und, und …
„Nichts ohne uns über uns“ hat Bundeskanzler Schüssel am deutlichsten ignoriert. Die Ethikkommission im Bundeskanzleramt wurde für weitere zwei Jahre bestätigt. Trotz unzähliger Proteste und Interventionen wurde an der Zusammensetzung der Kommission nichts geändert, Vertreter der Behindertenbewegung bleiben draußen.
Dennoch: Das vergangene Jahr hat einige erstaunliche positive Aspekte. Personen und Institutionen, die Behinderung bislang weitgehend ignorierten, haben sich für die Thematik interessiert und engagiert. Ein Grund könnte die umfassende Berichterstattung in den Medien sein, bei der das Europäische Jahr immer mit transportiert wurde. Ein Highlight war der Ö1 Radioschwerpunkt „Ohne Barrieren. Neue Wege für Menschen mit Behinderungen“. Nicht nur die hervorragend recherchierten Beiträge allein waren beachtlich. Der sprachliche und thematische Umgang mit Behinderung wurde insgesamt sensibler.
JournalistInnen haben gelernt, dass es nicht nur Helden und Hascherl, sondern auch Menschen gibt.
Die Caritas ist einer der größten Träger von Behinderteneinrichtungen. Engagierte MitarbeiterInnen bemühen sich seit Jahren, aus den pädagogisch längst überholten Fürsorge-Zentren moderne, die Selbstbestimmung fördernde Institutionen zu machen – und scheiterten immer wieder am Stellenwert von Menschen mit Behinderung in der Caritas selbst. Und nun: der Wiener Caritas-Direktor Michael Landau wurde zum starken Verbündeten von „BIZEPS“ und „Blickkontakt“, zwei progressive Organisationen der selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Gemeinsam luden sie zu einer Enquete und verabschiedeten eine Resolution für ein schlagkräftiges Behindertengleichstellungsgesetz.
Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger organisierte eine Tagung über barrierefreie Arztpraxen. Dieses Engagement trägt Früchte: Die Wiener Ärztekammer hat sich in den aktuellen Verhandlungen über neue Kassenverträge bereit erklärt, in den nächsten fünf Jahren 12 Prozent der Ordinationen barrierefrei umzugestalten – mit Unterstützung von BehindertenvertreterInnen. Das Burgenland ist bereits einen Schritt weiter: neue Verträge gibt es nur noch für barrierefreie Praxen.
Erstaunliches tat sich auch bei den Sozialpartnern. Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung, AK und ÖGB: Sie sind inhaltlich in einigen Punkten sehr weit auseinander – Stichwort Kündigungsschutz. Dennoch haben sie sich im Jahr 2003 zusammen getan. Auf Initiative der IV wurde eine gemeinsame neue Website erarbeitet, die Beispiele für gelungene Integration in den Arbeitsmarkt vorstellt.
Noch viel mehr Negatives, viel mehr Positives gäbe es über dieses vergangene Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen zu berichten. Sensibilisierung sollte es bringen. Vielleicht ist der aktuelle Quotenhit des ORF ein Gradmesser der tatsächlichen Wirkung.
Im Webforum erntet der Finalist Michael Hoffmann eine Menge „super“ und „cool“, weil er seine Auftritte „trotz“ Blindheit so gut meistert. Live auf Sendung bringt er Moderatorin Arabella Kiesbauer in Verlegenheit, wenn er etwa die Qualität der neuesten Fotos nicht beurteilen will, weil er sie noch nicht gesehen hat, oder eine Jugendsünde ins Auge hätte gehen können. Behinderung verliert ihre Ernsthaftigkeit und Dramatik, das Publikum darf lachen. Aber ob das Publikum dabei auch denkt? Wie tief die Sensibilisierung wirklich reicht, wird wohl erst die Zukunft weisen.
(gekürzt, Erstveröffentlichung: DIE FURCHE, 18. Dezember 2003)