Darfs ein bisschen weniger barrierefrei sein?

Der jüngste Entwurf einer Novelle zur Wiener Bauordnung vom Oktober 2003, der umfassende Bestimmungen zum barrierefreien Bauen und Planen enthalten sollte, weist lediglich eine einzige konkrete Maßnahme für sehbehinderte und blinde Menschen auf.

Gefährliche und viel zu steile Rampe
Krispl, Ulli

Die Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen zeigen sich empört über diesen Flopp in Sachen Wiener Bauordnungsnovelle.

Zur Erinnerung:

Seit über drei Jahren arbeiten die ExpertInnen der Behindertenbewegung ehrenamtlich und ausgesprochen intensiv mit Vertretern der Stadt Wien – Gemeinderätliche Behindertenkommission und Magistrat – in einer Arbeitsgruppe zur Erarbeitung einer umfassenden Bauordnungsnovelle betreffend barrierefreies Bauen und Planen zusammen. Ein durchaus respektabler Entwurf, der auch detaillierte Bestimmungen betreffend barrierefreie WCs, Aufzüge, Aufstiegshilfen, Gefahrenbereichsabsicherungen bei unterlaufbaren Rampen und Treppen, barrierefreie Gegensprechanlagen, Kennzeichnung großer Glasflächen etc. entsprechend den einschlägigen ÖNORMEN – B 1600, V 2100-2104 – enthielt, war das Resultat.

Doch dann kam im Mai 2003, also pünktlich im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen, die erste von vielen Ernüchterungen; es wurde bekannt, dass die Stadt Wien, völlig überraschend für die Behindertenvertreter, einen totalen Schmalspurentwurf in Eigenregie produziert hat, der kaum mehr Maßnahmen des barrierefreien Bauens und Planens entsprechend den einschlägigen ÖNORMEN enthielt, der sehbehinderte und blinde Menschen gänzlich unberücksichtigt ließ und der noch dazu, ohne dass die BehindertenvertreterInnen dazu noch ausreichend Möglichkeit zur Stellungnahme hatten, einfach auf die Reise nach Brüssel zur Genehmigung der darin enthaltenen technischen Normen geschickt wurde.

Ein Aufschrei der Behindertenbewegung war die Folge, denn dieser Novellierungsentwurf zur Wiener Bauordnung war klassisch eine wertlose Mogelpackung. Die Stadt Wien reagierte auf den Aufschrei nach einer mehrwöchigen Nachdenkphase und lud zu mehreren Gesprächsrunden ein. Zähe Verhandlungen, bei denen sich die Stadt kaum merklich auf die wohl allzu berechtigten Forderungen der Behindertenvertreter zubewegte.

Doch das jetzt schwarz auf weiß vorliegende Kompromissangebot der Stadt Wien verdient wohl kaum die Bezeichnung Gesetzesvorschlag für barrierefreies Bauen und Planen!

Die wesentlichsten Kritikpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Bloß eine einzige konkrete Maßnahme zum barrierefreien Bauen und Planen für sehbehinderte und blinde Menschen!

    Der Novellenentwurf bezieht sich zwar nunmehr generell auf alle „behinderten Menschen“ und nicht bloß, wie bislang, auf die Gruppe der „körperbehinderten Menschen“ – das ist das Ergebnis der vehementen Proteste und zähen Verhandlungen der ExpertInnen der Behindertenbewegung der letzten Monate gewesen -, doch sieht man genau hin, so findet man lediglich eine einzige konkrete Maßnahme des barrierefreien Bauens und Planens für sehbehinderte und blinde Menschen. Nach dem Entwurf sollen nämlich unterlaufbare Treppen und Rampen bis zu einer Höhe von 210cm, z. B. durch Querstangen, Leisten oder Einbauten, gegen das Unterlaufen abgesichert werden. Nach den Erläuterungen ist bei der Ausführung der Absicherung nach den Grundsätzen der ÖNORM V 2104 – Baustellen- und Gefahrenbereichsabsicherungen – sinngemäß vorzugehen.

    Dazu Wolfgang Kremser vom gemeinsamen Verkehrsgremium der Sehbehinderten- und Blindenorganisationen der Ostregion und Sprecher der ÖAVV: „Das ist einfach unfassbar. Die Absicherung unterlaufbarer Rampen und Treppen soll das gesamte Ergebnis der mehr als dreijährigen Arbeit sein? Und noch dazu muss man ja sagen, dass nicht alle unterlaufbaren Treppen und Rampen davon erfasst sind; unterlaufbare Treppen innerhalb von Wohnungen – z. B. in Maissonettewohnungen – oder innerhalb von Betriebsräumen müssen weiterhin nicht abgesichert werden. Dort darf man sich also mit freundlicher Genehmigung der Stadt Wien weiterhin Platzwunden, Prellungen, Abschürfungen, Nasenbeinbrüche, ausgeschlagene Zähne und noch viele schöne Dinge mehr holen. Na hoffentlich ist die Stadt Wien gut versichert.“

  • Sonst gibt es nichts für sehbehinderte und blinde Menschen!

    Wolfgang Kremser: „Ich finde das echt herrlich, dass es auch weiterhin nach der Wiener Bauordnung und dem Wiener Aufzugsgesetz völlig ok sein wird, dass in Wohnhäusern, Amtsgebäuden, Krankenanstalten, Veranstaltungsstätten etc. Aufzüge eingebaut werden, die über keine tastbaren Beschriftungen der Bedienelemente und über keine akustische Stockwerksansage verfügen oder gar völlig unbedienbare Infrarotbedienelemente haben. Ich finde es auch spitze, dass die Stadt Wien bewusst zulässt, dass sehbehinderte Menschen in große Glasflächen knallen, weil trotz vehementer Forderung keine kontrastierenden Warnmarkierungen in die Novelle aufgenommen wurden. Auch die Gegensprecheinrichtungen können weiterhin für sehbehinderte und blinde Menschen sanktionslos unbenützbar bleiben und tastbare Bodenleitsysteme scheinen offenbar als Luxus angesehen zu werden, auf den man ebenso verzichtet hat.“

    Maßstab des barrierefreien Bauens und Planens sind nur die diesbezüglichen Bestimmungen der Wiener Bauordnung!

    Obwohl man sich in den Verhandlungen darauf verstanden hat, dass den Maßstab des barrierefreien Bauens neben den diesbezüglichen Bestimmungen der Bauordnung auch die einschlägigen ÖNORMEN bilden sollen und diese auch in den Erläuterungen entsprechend zu bezeichnen sind – sie in der Bauordnung für verbindlich anwendbar zu erklären, lehnte die Stadt Wien trotz einer gegenteiligen Expertise des Verfassungsdienstes der Magistratsdirektion entschieden ab -, findet sich in den Erläuterungen kein Hinweis, welche ÖNORMEN zur Auslegung des jeweiligen Standes des barrierefreien Bauens und Planens heranzuziehen sind.

    Im Gegenteil; dort heißt es etwa ausdrücklich:

    Erläuterungen zu § 63 des Bauordnungsnovellenentwurfes: „Durch die Vorlage einer eigenen Bestätigung des Planverfassers über die Einhaltung der Grundsätze des barrierefreien Planens und Bauens soll gewährleistet werden, dass bei der Erstellung eines Bauprojekts auf die Beachtung der diesbezüglichen gesetzlichen Bestimmungen der Bauordnung für Wien besonderes Augenmerk gelegt wird.“

    Erläuterungen zu § 128 des Bauordnungsnovellenentwurfes: „Durch die Ergänzung des Abs. 1 Z 1 soll gewährleistet werden, dass sich der bestätigende Ziviltechniker ausdrücklich mit der Frage, ob die Grundsätze des barrierefreien Planens und Bauens – nämlich die diesbezüglichen Bestimmungen der Bauordnung für Wien – bei der Bauausführung eingehalten wurden, auseinander setzen muss.“

    Dazu Manfred Srb vom Behindertenberatungszentrum und Zentrum für selbstbestimmtes Leben BIZEPS: „Wenn man diese Maßnahmen in der Wiener Bauordnung tatsächlich als umfassende Grundsätze des barrierefreien Bauens und Planens versteht, dann halte ich das für einen schlechten und ziemlich geschmacklosen Witz. Es fragt sich dann nämlich, wofür wir in jahre-, ja jahrzehntelanger Arbeit umfassende Grundsätze des barrierefreien Bauens und Planens in einer Vielzahl von ÖNORMEN erarbeitet haben, wenn man sie auch auf die Schmalspurversion der Wiener Bauordnung hätte reduzieren können. Doch offenbar ist das wieder einmal die alte und leider allzu bekannte Methode: Man lässt die „Behinderten“ einmal möglichst lang hackeln, um ihnen dann wie aus dem Nichts zu erklären, wie die Welt wirklich läuft.“

  • Barrierefrei gebaut wird nur, wenn das die Wiener Baubehörde aus bautechnischer Sicht für vertretbar hält!

    Wenngleich wir es mit einer Schmalspurvariante des barrierefreien Bauens zu tun haben, sah man sich im Wiener Magistrat offenbar dennoch genötigt, die Barrierefreiheit nicht ausufern zu lassen und nahm daher in die Erläuterungen nahezu bei jeder Regelung die Bemerkung auf, dass die Maßnahmen des barrierefreien Bauens und Planens nach der Wiener Bauordnung „allerdings dort ihre Grenze haben, wo die Zugänglichkeit und Benützbarkeit durch behinderte Menschen die vertretbaren bautechnischen Möglichkeiten übersteigen.“

    Manfred Srb: „Na wunderbar, die Beamten werden uns sicher in jedem einzelnen Baufall in epischer Breite erläutern, warum etwas wieder einmal einfach nicht möglich ist; das haben wir ja auch bislang erlebt. Dass grundsätzlich nichts geht und dass man im Ernstfall halt einfach etwas übersehen hat oder dass da einfach nicht das Land, sondern der Bund zuständig ist, sind die üblichen Spielchen, die man hier wieder einmal am Rücken der behinderten Menschen spielt und ihnen damit wieder ihre Rechte auf ein chancengleiches und gleichberechtigtes Leben in der Gesellschaft verweigert.“

So weit zu den Hauptkritikpunkten, die insbesondere von den ExpertInnen der Vereine BIZEPS und Blickkontakt sowie vom gemeinsamen Verkehrsgremium der Sehbehinderten- und Blindenorganisationen der Ostregion am 7. November 2003 an die Stadt Wien in einer gemeinsamen Stellungnahme herangetragen wurden. Die Stadt Wien wurde zugleich aufgefordert, diese inakzeptablen Mängel der Bauordnungsnovelle zu beseitigen. Doch bislang steht eine Antwort der Stadt Wien dazu aus.

Es bleibt also weiterhin spannend, ob man sich in Wien nun ernsthaft für handfeste gesetzliche Bestimmungen zum barrierefreien Bauen und Planen entscheiden will oder einfach irgendeine plakative aber wirkungslose Aktion noch kurz vor Ablauf des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen gegen den erklärten Willen der Menschen mit Behinderungen durchdrücken will.

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