Die deutsche Kultusministerkonferenz will den sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen „überarbeiten“. Damit wird sie aber nicht das schreckliche Erbe los, das sie nach 1945 mit dem Ausbau der Hilfsschule angetreten hat.
Das Konstrukt der „Hilfsschulbedürftigkeit“ im Nationalsozialismus: Die „Hilfsschulbedürftigkeit“ wurde von der Sonderpädagogik im Nationalsozialismus für die Zwangsauslese „hilfsschulbedürftiger“ Kinder aus der Volksschule konstruiert.
Sie sollte die Hilfsschule von ihrem negativen Ruf als Institution für ausschließlich „Schwachsinnige“, „Erbgeschädigte“ und „Minderwertige“ befreien, die professionelle Stellung der Hilfsschullehrkräfte verbessern, ihre Gleichstellung mit den Taubstummen- und Blindenlehrern ermöglichen und die Auslese aus der Volksschule erweitern.
Als „hilfsschulbedürftig“ galten der Sonderpädagogik die Kinder, die wegen ihres Leistungsrückstands die Volksschule belasteten und erst durch die völkische Erziehungsarbeit und den ihrer Eigenart entsprechenden lebenspraktischen Unterricht in der Hilfsschule zu brauchbaren Gliedern des deutschen Volkes gemacht wurden.
Mit der Übernahme des Konstrukts durch die NS-Politik wurde ein strikter Zwang für die Volksschule eingeführt, „hilfsschulbedürftige“ Kinder zu melden.
Die sich daran anschließende Diagnostik entwickelte sich in der Zeit des Nationalsozialismus zur „exklusiven“ Aufgabe der Hilfsschullehrkräfte. Prof. Hänsel hat diese Zusammenhänge wissenschaftlich erforscht und wiederholt dargestellt.
Die Fortführung der „Hilfsschulbedürftigkeit“ nach 1945
Hänsel hat in ihrer neuen wissenschaftlichen Publikation mit der Rekonstruktion der Magdeburger Hilfsschule als Modell der Sonderschule für „hilfsschulbedürftige“ Kinder im Nationalsozialismus nachgewiesen, dass das Konstrukt der „Hilfsschulbedürftigkeit“, das dort entwickelt wurde, mit Ausnahme des rassenideologischen Bezugs, nach 1945 von der Kultusministerkonferenz übernommen wurde und bis in unsere Zeit von ihr fortgeführt wird.
Das „Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens“ der Kultusministerkonferenz von 1960 wurde zur Grundlage für den Ausbau der Hilfsschule und steckte den Rahmen für ein ausdifferenziertes und einheitliches Sonderschulsystem ab.
Zwar behauptete die Kultusministerkonferenz ebenso wie die Sonderpädagogik den „Neuanfang“ des Sonderschulwesens nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, machte jedoch mit der Fortführung der Hilfsschule auch die „Hilfsschulbedürftigkeit“ nach dem Vorbild der Magdeburger Hilfsschule zu ihrem zentralen Begriff.
Die Kultusministerkonferenz begründete, wie Hänsel zeigen kann, die „Hilfsschulbedürftigkeit“ ebenfalls mit der Eigenart des Hilfsschulkindes und forderte einen Bildungsplan, der diese Eigenart zu berücksichtigen habe und nicht an dem Plan der Volksschule angelehnt sein dürfe. Wie die Magdeburger Hilfsschule stellte die Kultusministerkonferenz die lebenspraktische Erziehungs- und Unterrichtsarbeit für Hilfsschulkinder in Abgrenzung zur Volksschule in das Zentrum.
Die Auslese in die Hilfsschule spielte in dem Gutachten der Kultusministerkonferenz eine herausragende Rolle. Die Verfahrensabläufe wurden wie im Nationalsozialismus detailliert vorgegeben und bezüglich der Zuständigkeiten an dem „Magdeburger Verfahren“ orientiert. Das bedeutete, dass die Diagnostik ausschließlich der Hilfsschullehrkraft vorbehalten war.
Wechselnde Bezeichnungen für eine geschichtsbelastete Konstruktion
Aus der „Hilfsschulbedürftigkeit“ wurde mit der Umbenennung der Hilfsschule in Sonderschule für Lernbehinderte in der „Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens“ der Kultusministerkonferenz von 1972 die „Sonderschulbedürftigkeit“. Seit 1994 spricht die Kultusministerkonferenz offiziell von „sonderpädagogischem Förderbedarf“, dem sie unterschiedliche Förderschwerpunkte zuordnet.
Die „Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zum Förderschwerpunkt Lernen“ von 1999 halten sonderpädagogischen Förderbedarf bei Kindern für gegeben, die „in ihrer Lern- und Leistungsentwicklung so erheblichen Beeinträchtigungen unterliegen, dass sie auch mit zusätzlichen Lernhilfen der allgemeinen Schule nicht ihren Möglichkeiten entsprechend gefördert werden können“.
Für alle Bezeichnungen gilt, dass es sich, wie Hänsel feststellt, mit Ausnahme des rassenideologischen Bezugs um einen „Abklatsch“ der „Hilfsschulbedürftigkeit“ handelt, die die Magdeburger Hilfsschule in der Zeit des Nationalsozialismus entwickelte. Auch mit der Einführung des „sonderpädagogischen Förderbedarfs“ von 1994 verbindet sich keine „kopernikanische Wende“, wie von der Sonderpädagogik behauptet.
Das Unrecht an den Kindern beenden!
Durchgängig gilt, dass diese Konstruktion schulorganisatorisch mit dem Leistungsrückstand von Kindern, denen die allgemeine Schule nicht gerecht werden kann, von der Bildungspolitik begründet wird. Die sonderpädagogische Diagnostik gilt heute ebenso wie damals als unverzichtbar und ist heute wie damals nicht objektivierbar und valide.
Es gibt keine wissenschaftlichen Kriterien zur Absicherung eines „sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen“, wie die „Hilfsschulbedürftigkeit“ heute umständlich bezeichnet wird. Die sonderpädagogische Diagnostik ist willkürlich und schädlich.
Sie stellt ein Unrecht an den Kindern dar, die „etikettiert“ werden. Es bleibt auch dann ein Unrecht, wenn Kinder mit Lern- und Leistungsproblemen heute in der Regelschule sonderpädagogisch gefördert werden. Die Zuschreibung hat weitreichende bildungs- und lebensbiografische Folgen und wirkt als Stigma, das die Betroffenen lebenslang begleitet.
Die zwingende Konsequenz für die Kultusministerkonferenz muss daher lauten: Das Unrecht beenden! Den Förderschwerpunkt Lernen sowie die daran gebundene sonderpädagogische Diagnostik und Sonderschule abschaffen! Die Kinder mit Lernproblemen individuell, nicht sonderpädagogisch in der allgemeinen Schule fördern!
Damit ist auch der entscheidende Schritt zum Abbau des Sonderschulsystems getan, zu dem die UN-Behindertenrechtskonvention Deutschland verpflichtet.