Birgit Schopmans

Das verlorene Licht

Kindheitserfahrungen - Mir ist als Kind lange nicht aufgefallen, dass bei mir etwas anders sein sollte, als bei den anderen Kindern.

Wir spielten und tobten miteinander, ob es sich um Fangen, Verstecken, Ballspiele oder andere Dinge handelte, die Kindern Spaß machen. Ich war dabei. Gerade im Sommer haben wir Kinder auf dem Lande sehr viel draußen spielen können und oft ging es ziemlich wild zu.

Mit etwa drei oder vier Jahren, ist mir erstmals bewusst geworden, dass ich manches nicht so gut konnte, wie die anderen Kinder. So brauchte ich teilweise beim Versteckspiel sehr lange, bis ich ein anderes Kind endlich gefunden hatte. Beim Ballspielen verfehlte ich öfter mal den Ball und beim Fangenspielen konnte es passieren, dass ich etwas übersah und z.B. über eine Wurzel stolperte. So wurde mir mit der Zeit bewusst, dass mit meinem Sehen „etwas nicht stimmte“.

Im Gegensatz zu meiner Schwester, die die gleiche Augenerkrankung hat, war ich jedoch diejenige, die noch etwas besser sah. Da zu dieser Zeit meine Eltern nicht sehr ängstlich waren, dass uns aufgrund der Sehbehinderung etwas passieren könnte, gab es von ihnen kaum Ermahnungen zur Vorsicht, sodass wir uns beim Spielen, wie oben beschrieben, verhältnismäßig uneingeschränkt entfalten konnten.

Im 1. Schuljahr bin ich, wie die anderen Kinder, in die Grundschule am Ort eingeschult worden. Dort habe ich mein „Anderssein“ durch vereinzelte Hänseleien wie beispielsweise: „Du schielst ja!“ oder „Du bist ja Scheel!“ zu spüren bekommen. Durch so manche kleinere Hilfen, wie beispielsweise dick linierte Hefte und dickere Stifte und näheres Herangehen an die Tafel bin ich, als Schülerin mit einer Sehbehinderung, in der Grundschule am Ort ganz gut klargekommen.

Weil meine Eltern jedoch wussten, dass sich mein Sehen mehr und mehr verschlechtern würde, ließen sie mich ab dem 2. Schuljahr in eine Sehbehindertenschule umschulen. Insgesamt war meine Kindheit davon geprägt, dass ich eine fortschreitende Augenerkrankung habe und alles dafür getan wurde, die Sehverschlechterung so lange wie möglich aufzuhalten.

„Ich wollte lieber „im Dunkeln tappen“, statt souverän mit dem Blindenstock zu laufen.“

Obwohl meine Augenerkrankung, das angeborene Glaukom (Grüner Star), häufig im Kindes- oder Jugendalter bereits zur Erblindung führt, blieb bei mir bis Anfang 30 ein geringes Sehvermögen erhalten. Nachdem vor meiner Einschulung zahlreiche Operationen eher zu einer Sehverschlechterung führten, pendelte sich mein Sehen zwischen dem 6. und 20. Lebensjahr auf ca. 5 % ein.

Damit können Menschen mit einer Sehbehinderung mit einigem Training und Hilfsmitteln wie Lupenbrillen oder Monokolaren, noch eine Menge anfangen! So war es mir beispielsweise, trotz geringem Sehrest, mit Hilfe eines Monokolares möglich, Straßenschilder, Hausnummern oder die Anzeigetafeln auf Bahnhöfen noch selbst zu lesen. Etwa zu Beginn meines Studiums, mit Anfang 20, setzte jedoch schleichend eine weitere Sehverschlechterung ein.

So wollte ich erst gar nicht wahrhaben, dass ich immer stärkere Vergrößerungen bei Lupenbrillen und später ein Bildschirmlesegerät mit bis zu 50-facher Vergrößerung zum Lesen benötigte. Auch habe ich festgestellt, dass meine Sehfähigkeit im Dunkeln nachließ und ich insgesamt beim Laufen ohne Blindenstock immer später Hindernisse bzw. Treppen erkannte.

Wie so viele Menschen mit einer fortschreitenden Sehbehinderung ist es auch mir sehr schwer gefallen, zur Verbesserung meiner Mobilität und zur größeren Sicherheit im Straßenverkehr, auf den Blindenstock „umzusteigen“. So war es nicht leicht für mich, mich in der Öffentlichkeit als „offensichtlich blind“ bzw. stark sehbehindert, zu zeigen.

So lange wie möglich habe ich mich noch irgendwie durchgeschlagen und war darin geübt, Hindernissen „in letzter Sekunde“ auszuweichen. Als ich dann jedoch ein- zweimal nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte und eine Laterne „küsste“, was einmal einen abgebrochenen Schneidezahn zur Folge hatte, habe ich mich endlich für ein Mobilitätstraining mit Blindenstock entschieden.

„Am Tag kam es mir manchmal so vor, als hätte schon die Abenddämmerung eingesetzt.“

Ich kann nicht genau sagen, wann ich überhaupt nichts mehr sehen konnte. Ich weiß nur noch, dass ich die letzten Monate, die ich noch etwas sah, immer häufiger am Tag das Licht anmachte, weil ich den jeweiligen Raum zu dunkel fand. Draußen kam es mir am Tag manchmal so vor, als hätte schon die Abenddämmerung eingesetzt. Am besten konnte ich noch bei strahlendem Sonnenschein sehen.

Einige Wochen, bevor ich erblindete, sah ich immer häufiger Lichtblitze und manchmal auch alles verschwommen. Beides kann durch den erhöhten Augeninnendruck beim „Grünen Star“ hervorgerufen werden. Lichtblitze gesehen zu haben, hat mir auch eine inzwischen erblindete Bekannte bestätigt, die die gleiche Augenerkrankung hat.

Mit der Erkennung von Farben wurde ich immer ungenauer. So konnte ich kurz vor meiner Erblindung nur noch sehr klare, leuchtende Farben erkennen. Schwächere Farben sind für mich immer mehr ins Grau abgetaucht. Gegenstände konnte ich immer weniger optisch erfassen, sodass ich unbewusst, wenn möglich, mehr und mehr zum Ertasten übergegangen bin. Jetzt, knapp 10 Jahre später, sehe ich auch nicht mehr hell und dunkel sondern nichts. Vielleicht kann ich das so beschreiben, wie die Hand oder der Fuß, die nicht sehen können…

Die Maschinerie des medizinischen Systems

Bevor jedoch meine Erblindung eintrat, habe ich noch sehr stark die Maschinerie des medizinischen Systems erlebt, welches mich unter Druck gesetzt hat, eine Operation durchführen zu lassen, die eventuell mein Sehen hätte erhalten können. Sie hätte jedoch auch zur Folge haben können, dass ich sofort erblindet wäre.

Ich habe mich nach einigen schlaflosen Nächten und unerfreulichen Diskussionen mit Augenärzten gegen diese Operation entschieden, da ich Angst hatte, dabei „auf einen Schlag“ zu erblinden. Zudem sah ich meine Erblindung nur noch als Frage der Zeit an, sodass ich mir durch eine solche Operation, wenn überhaupt, nur einen kurzfristigen Erhalt meiner Sehkraft versprach. Ärztlicherseits wurde ich überhaupt nicht verstanden, da Ärztinnen und Ärzte immer empfehlen, um jeden Preis auch das kleinste Restchen Sehen zu „retten“.

„Das Glas ist nicht halb leer sondern halb voll“

Obwohl es für mich nicht leicht war, die Situation, nicht mehr sehen zu können, zu akzeptieren, war ich einerseits auch erleichtert. Endlich den Zustand des Blindseins erreicht zu haben, sodass ich mich nicht mehr vor dem Ungewissen – Beängstigenden fürchten musste. Da ich wusste, dass die Erblindung bei mir in den nächsten Jahren eintreten würde, hatte ich sozusagen „nichts mehr zu verlieren“.

Nach einer Zeit der Frustration und „des Haderns mit meinem Schicksal“, ist mir klar geworden, dass für mich die Zufriedenheit mit meinem Leben nicht vom Grad meiner Sehfähigkeit abhängt. Um zu dieser neuen „Sichtweise“ zu gelangen, war für mich der Austausch mit anderen behinderten Menschen und die Philosophie der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen sehr wichtig. Ich lernte, mich als blinder Mensch nicht immer nur daran zu orientieren, was nicht „mehr“ geht, sondern daran, was noch alles möglich ist bzw. etwas anders, zu bewerkstelligen ist. Nach dem Motto: „Das Glas ist halb voll und nicht halb leer!“

Inzwischen – nach ca. 10 Jahren, ist das Nichtsehen für mich zur Selbstverständlichkeit geworden. Vieles ist leichter, weil es für mich Routine ist, mich auf meine anderen Sinne zu verlassen und manches anders zu organisieren. Daher trauere ich nur noch selten meinem Sehen nach.

Manche positiven Aspekte fallen mir auch immer wieder auf, z.B., dass ich mich nicht so von Äußerlichkeiten, etwa wie jemand gekleidet ist bzw. aussieht, abhängig mache. Und im Gegensatz zu meiner früheren Situation, als Mensch mit einer Sehbehinderung, der sich immer wieder hat verführen lassen, die Behinderung zu vertuschen, hat das „Versteckspiel“ durch meine Erblindung inzwischen ein Ende gefunden. Daher gehe ich heute viel offensiver und selbstbewusster mit meiner Behinderung um.

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