Der Maßnahmenvollzug aus behindertenpolitischer Sicht

Im späten Herbst 2018 besuchte eine Delegation der Volksanwaltschaft das Jour fixe der GeschäftsführerInnen der Organisationen der Wiener Behindertenhilfe im Dachverband der Wiener Sozialeinrichtungen.

Justizanstalt Göllersdorf
Robert Mittermayr

Thema des Treffens war die deutliche Zunahme von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen im Maßnahmenvollzug, über die die Volksanwaltschaft ja auch in ihren regelmäßigen Stellungnahmen immer wieder berichtet.

Ein weiteres Thema des Treffens war das Fehlen von Nachsorgeeinrichtungen für Menschen mit Behinderungen, die bedingt aus dem Maßnahmenvollzug entlassen werden könnten, gäbe es nur ein passendes Betreuungsangebot.

Maßnahmenvollzug ein menschenrechtliches Problem

Der Besuch der Volksanwaltschaft gerade in diesem Forum macht deutlich, dass der Maßnahmenvollzug nicht nur ein juristisches und ein menschenrechtliches Problem darstellt, sondern vor allem auch aus einer behindertenpolitischen Sicht diskutiert werden muss.

Es ist nämlich eine Tatsache, dass die meisten Personen, die im Maßnahmenvollzug untergebracht sind, nach der Definition der UN-BRK Menschen mit Behinderungen sind. Für die Menschen, die nach § 21/1 eingewiesen sind, also nicht zurechnungsfähig sind, stellt dies vermutlich niemand in Frage.

Aber auch ein großer Teil der Menschen, die als zurechnungsfähig nach § 21/2 gelten, leidet an einer psychischen Erkrankung, die sie dauerhaft in ihrer Lebensführung einschränkt und unterliegt damit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).

Im föderalistischen Österreich sind es in den meisten Belangen die Länder, die für die Betreuung und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen verantwortlich sind. Es stellt sich also die Frage, warum das nicht für Menschen gilt, die – häufig auch aus Gründen fehlender oder mangelhafter Betreuung – im Maßnahmenvollzug gelandet sind.

Bis vor wenigen Jahren war es etwa in Wien selbstverständlich, dass bedingt aus dem Maßnahmenvollzug entlassene Menschen, wenn sie den Kriterien des Wiener Chancengleichheitsgesetz entsprochen haben, eine Bewilligung des Fonds Soziales Wien bekommen haben und mit dieser in „ganz normalen“ Einrichtungen der Behindertenhilfe betreut werden konnten.

Der Verein LOK Leben ohne Krankenhaus hat dies seit seiner Gründung in zahlreichen Fällen gemacht und hat dabei ganz bewusst auf eine explizite Unterscheidung zwischen den BewohnerInnen verzichtet.

Nachsorgeeinrichtungen

Vor einigen Jahren hat sich die Vollzugsdirektion im Justizministerium dazu entschlossen, selbst Nachsorgeeinrichtungen für bedingt zu entlassene Personen aus dem Maßnahmenvollzug zu finanzieren. Diese Vorgangsweise war verständlich, stellten die Länder doch viel zu wenige Betreuungsplätze zur Verfügung.

Sie führte aber auch dazu, dass sich die Länder ihrer Verantwortung endgültig entledigten und bedingt aus dem Maßnahmenvollzug entlassene Menschen mit Behinderungen heute fast gar nicht mehr in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu finden sind.

Vielmehr werden sie in Spezialeinrichtungen untergebracht, in denen oft grundlegende menschenrechtliche Standards außer Kraft gesetzt sind. So gilt z.B. das Heimaufenthaltsgesetz in solchen Einrichtungen nicht und werden viele bedingt entlassene Menschen mit psychischen Erkrankungen völlig inadäquat in Pflegeeinrichtungen betreut.

Reform notwendig

Nachdem der Maßnahmenvollzug –  und seine nach wie vor auf sich warten lassende dringende Reformderzeit wieder häufig in den Medien zu finden ist (was vor allem dem vorbildlichen Engagement des Vereins SIM – Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmenvollzug zu verdanken ist), erscheint es mir sinnvoll, auch die beschriebene behindertenpolitische Fragestellung in den Mittelpunkt zu rücken.

Die Tatsache, dass sich so viele Menschen mit psychischen und intellektuellen Beeinträchtigungen im Maßnahmenvollzug untergebracht sind, deutet auf ein strukturelles Versagen der Behindertenhilfe hin.

Es ist davon auszugehen, dass die meisten Einweisungen vermeidbar wären, wenn die betroffenen Personen eine individuell passende und adäquate Betreuung erhalten würden. Wer drinnen und wer draußen landet, ist oft der Willkür geschuldet, ob in Krisensituationen passende Unterstützungsleistungen zur Verfügung stehen.

Der Unterschied liegt also in der Regel nicht in den Personen selbst, sondern in den mangelhaften Strukturen.

Was ist das Ziel?

Eine ernsthafte Reform des Maßnahmenvollzugs müsste also mit einer gemeinsamen Anstrengung von Bund und Ländern einhergehen.

Ziel muss es sein, in den Ländern passende Betreuungsstrukturen zu etablieren, und zwar solche, die nicht Sondereinrichtungen schaffen, sondern die Betroffenen als das sehen, was sie tatsächlich sind, nämlich Menschen mit Behinderungen, die ein Recht darauf haben, individuell passende und inklusive Unterstützungsleistungen zu erhalten.

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2 Kommentare

  • Das ist eben wirder der „gute alte Klassenstaat“. Michel Foucaults „Überwachen und Starfen“ bzw. „Wahnsinn und Gesellschaft“ haben leider nichts an Aktualität verloren. :-(

    Zum Wording: Bei „psychischen Krankheiten“ handelt es sich oft in Wirklichkeit um „psychische Verletzung“ die ihre wohlbegründeten URSACHEN haben, aber die TÄTER die werden fast nie pathologisiert, nur die Opfer der (strukturellen) GEWALT!

  • Ich habe selbst eine psychische Krankheit und möchte die Aussage von Herrn Mittermair kommentieren. Natürlich ist es auch wahr, dass diese Menschen einer Betreuung bedürfen und behindert sind. Allerdings würde ich den Begriff der Behinderung enger fassen und somit nicht jedem potenziellen Straftaeter schon im Vorhinein ein ok für seine Tat zu geben. Wo würde das hinführen,wenn die Freiheit nicht massiv beschränkt wuerde? Dann gebe es tausende Menschen die ihrem Fetisch nachgeben und man müsste die dann alle bemitleiden und therapieren. Ich glaube, dass Freiheit nicht immer das höchste Gebot darstellt und dass die Androhung von Strafe zu einem straffreien Leben verhelfen kann. Also lieber verängstigte Mitbürger und Mitbürgerinnen also vor Kindergarten masturbierende Menschen die man als behindert darstellt. Regeln und Normen sind wichtig um ein straffreies Miteinander zu schaffen.