Der Nazi Gross – ein Opportunist

Die Gross-Anklage - ein Neubeginn für die Justiz. Interview in NEWS mit Döw-Chef Wolfgang Neugebauer

Wolfgang Neugebauer
Neugebauer, Wolfgang

NEWS: Sie, Herr Doktor, befassen sich mit Gross seit Jahrzehnten. Wie charakterisieren Sie ihn?

Neugebauer: Er ist ein ziemlicher Opportunist und war ein zutiefst in Ideologie und verbrecherische Praxis des Nationalsozialismus involvierter und überzeugter Nazi. Innerhalb weniger Jahre hat er seine weltanschauliche Position grundlegend geändert. Er wurde SPÖ- und BSA-Mitglied.

NEWS: Er wurde aber später von der SPÖ ausgeschlossen.

Neugebauer: Zuvor allerdings hat er es verstanden, über diese BSA-Schiene seine Nachkriegskarriere als Psychiater zu begründen. Über seine gesetzwidrigen Tätigkeiten hat er lange Zeit den Mantel des Schweigens gebreitet.

NEWS: Die Verbrechen, die Gross zur Last gelegt werden, geschahen 1944. Warum agiert die Justiz erst jetzt?

Neugebauer: Daß die Strafverfolgung erst jetzt einsetzt, ist ein Skandal. Zumal die verbrecherischen Handlungen seit mindestens 20 Jahren bekannt sind. Aber wie viele andere konnte es sich auch dieser Gross mit Hilfe der Großparteien eben richten. Mit Hilfe der haarsträubenden juristischen Konstruktion, Gross habe möglicherweise nicht Mord, sondern nur Totschlag begangen .

NEWS: Im Gegensatz zu Mord verjährt Totschlag nach 30 Jahren.

Neugebauer: So ist es. Also kam die Justiz zum Schluß, daß eine Strafverfolgung des Dr. Gross nicht mehr möglich sei. Das Skandalöse an dieser Rechtsauffassung war, daß beim Mord niedrige Motive vorliegen müssen und unsere Justiz lange meinte, daß der Kindermord im Sinne der NS-Ideologie nicht aus niedrigen Motiven erfolgt sein kann.

NEWS: Was werfen Sie der heutigen Justiz vor?

Neugebauer: Nichts. Im Gegenteil: Eine enorm gute und couragierte Untersuchungsrichterin (Anm.: Minou Neundlinger), ein energischer Staatsanwalt (Georg Karesch) und ein korrekter Justizminister sind sehr zielstrebig vorgegangen und haben den Vorgang seriös geklärt. Meine Kritik bezog sich auf die Versäumnisse der vergangenen 50 Jahre. Ich hoffe, daß ein fairer Prozeß stattfinden wird.

NEWS: Gross ist 84, die Hauptbelastungszeugin ein Jahr älter .

Neugebauer: Es geht ja jetzt nicht darum, daß ein alter Mann ins Gefängnis kommt, sondern daß dieser Vorgang erstmals öffentlich dargestellt wird. Die Anklageschrift spricht von Mord – und das ist kein Kavaliersdelikt, das sich der Verfolgung entzieht. Ob der Prozeß dann tatsächlich noch stattfindet und Gross verurteilt wird, ist sekundär.

NEWS: Gross war bis vor kurzem noch der wichtigste Gutachter im Grauen Haus.

Neugebauer: Das ist wirklich ärgerlich und skandalös. Seit 1981 gibt es im Medienprozeß Gross kontra Werner Vogt ein rechtskräftiges Gerichtsurteil, das Gross bescheinigt, in die Kindermorde von Wien-Steinhof involviert gewesen zu sein. Dennoch wurde Gross immer wieder als Gutachter beigezogen. Ein Skandal.

NEWS: Umso mehr müßten Sie der Justiz jetzt Respekt zollen.

Neugebauer: In höchstem Maß – vor allem der U-Richterin und dem Staatsanwalt. Man hätte den Fall Gross 1980 ins Rollen bringen können – seit damals sind die Fakten bekannt. Umso mehr ist die Rechtschaffenheit der heutigen Justizorgane zu loben.

NEWS: Kann jetzt ein Kapitel Zeitgeschichte abgehakt werden?

Neugebauer: Das Kapitel Gross geht zu Ende, und für die Justiz gibt es einen positiven Anfang. Die Gross-Anklage ist Zeichen einer neuen demokratischen Justiz.

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