Eine Szene aus dem Wiener Kulturleben.
1. Vor der Kassa eines Wiener Theaters. Groll, ein Rollstuhlfahrer, will ein Karte kaufen.
Groll: Fünfte Reihe fußfrei, bitte.
Die Frau an der Kassa: Sie meinen Parkett.
Groll: Fußfrei.
Die Frau an der Kassa: Also zweimal Parkett.
Groll: Einmal!
Die Frau an der Kassa: Das geht nicht. Laut Wiener Veranstaltungsstättengesetz dürfen Rollstuhlfahrer nur in Begleitung eines Gesunden in den Saal. Es ist nur zu Ihrem Schutz.
Groll: Sie schützen mich vor der Kultur? Ist das Stück so schlecht?
Die Frau an der Kassa: Das Stück ist ausgezeichnet. Die Kritiken waren überschwenglich.
Groll: Dann schützen Sie die Kultur vor mir. Warum?
Die Frau an der Kassa: Weil Österreich ein Kulturstaat ist. Und in einem Kulturstaat unterliegt der Zugang zur Kultur gewissen Regeln.
Groll: Von 96 Wiener Kinos sind ganze 12 für Rollstuhlfahrer benützbar. In den Wiener Theatern existieren ganze drei Behindertentoiletten. Die kulturellen Regeln regeln also den Zugang zur Kultur.
Die Frau an der Kassa: Je teurer die Kultur, desto wichtiger wird ihr Schutz. Seit dem Ringtheaterbrand im vorigen Jahrhundert verfügt Wien über das strengste Veranstaltungsstättengesetz der Welt.
Groll: Der Katastrophenschutz regelt den Schutz der Kultur vor Katastrophen. Drei Behinderte in einem Theater, und die Kultur würde katastrophalen Schaden erleiden. Wien, gesunde Stadt.
Pause.
Groll: Und wenn ich verspreche, daß ich mich ganz still verhalte? Kein epileptischer Anfall, kein unkoordinierter Austritt von Körpersäften, keine Krämpfe in den Beinen?
Die Frau an der Kassa: Bedaure.
Der Herr hinter Groll: Sie da vorne, es warten noch andere Leute!
Groll: Das tut mir leid.
Eine Dame von weiter hinten: Für Diskussionen ist das nicht der rechte Ort. Gewisse Regeln müssen wir alle einhalten.
Groll: Ich brauche einen Begleiter?
Die Frau an der Kassa: Richtig.
Groll: Darf es auch eine Begleiterin sein?
Die Frau an der Kassa: Selbstverständlich.
Groll höflich: Vielen Dank für die Auskunft.
Wendet den Rollstuhl und rollt davon. Zu den Wartenden: Entschuldigen Sie bitte die Verzögerung.
Eine Dame von weiter hinten: Ist schon recht. Meine Mutter war auch behindert, bevor sie verstorben ist.
Der Herr hinter Groll nachrufend: Das Stück wird sicher vom Fernsehen aufgezeichnet. Fernsehen ist für Sie doch viel bequemer.
2. Fünfzehn Minuten später.
Groll fährt vor die Kassa; er zieht einen zweiten Rollstuhl hinter sich her, in dem eine modisch gekleidete Frau sitzt. Die Frau schläft.
Groll außer Atem: Ausverkauft?
Die Frau an der Kassa: Einige Plätze sind noch frei.
Groll: Gott sei Dank. Bitte zweimal fußfrei.
Die Frau an der Kassa: Zweimal Parkett. Tippt in den Computer. Wo ist Ihr Begleiter?
Groll stolz: Es ist eine Begleiterin: Die Frau Kulturstadtrat. Sie ist nicht behindert; sie sitzt im Rollstuhl, weil sie müde ist.
Die Frau an der Kassa: Ein Skandal! Sie wollen sich den Zugang zur Kultur erschwindeln!
Groll: Das ist kein Skandal, das ist die Frau Kulturstadtrat, und sie wird sich jetzt mit mir das Stück ansehen.
Die Frau an der Kassa: Nur über meine Leiche!
Groll: Sie verwehren der Frau Kulturstadtrat den Zutritt zur Kultur? Sie behindern einen Vertreter des Souveräns in der Ausübung seiner verfassungsmäßigen Rechte? Sind Sie sich der Konsequenzen bewußt? Wissen Sie, was mit Ihnen geschieht, wenn die Frau Kulturstadtrat, die sich in meinem Rollstuhl von der Kulturmüdigkeit erholt, aufwacht? Sind Sie überhaupt pragmatisiert? Haben Sie eine Gemeindewohnung? Sparen Sie auf eine Feuerbestattung?
Die Frau an der Kassa: Sie Können mir nicht drohen. Ich habe meine Dienstordnung und an die halte ich mich. Wenden Sie sich an die Direktion.
Groll: Sie wollen es nicht anders. Ihr Untergang ist beschlossene Sache. Ihre Kinder werden Ihnen kein ehrendes Andenken bewahren. Ich wende mich jetzt an die oberste Instanz, ich wende mich an die Frau Kulturstadtrat. Frau Kulturstadtrat, man will uns den Zugang zur Kultur verwehren. Sprechen Sie bitte eine generelle Suspendierung vom Dienst, von der Gemeindewohnung und von der Feuerbestattung aus.
Die Dame im Rollstuhl erwacht.
Die Frau Kulturstadtrat: Warum dieser Lärm? Sind die Festwochen festgefahren? Wer stört meinen verdienten Schlaf? Hat denn die Kultur schon begonnen?