Der total institutionalisierte Alltag

Autismusspezifische Alltagsgestaltung in Wohn- und Betreuungseinrichtungen auf Basis der multifunktionellen Fördertherapie nach Muchitsch. Ein Kommentar von Erich Wahl und Elke Mayerhofer.

Symbolbild Fragezeichen
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Viel ist nicht zu erfahren über die Funktionsweise der Involvierungs- und Multifunktionellen Fördertherapie nach Muchitsch. In der Arbeit mit Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen in Österreich scheint sie dennoch etabliert zu sein, arbeiten doch Vereine und Organisationen im ganzen Bundesgebiet u.a. nach diesen Konzepten.

Grundsätzlich müssen therapeutische Behandlungen einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten, um deren Wirksamkeit zu belegen. Ob die Methode nach Muchitsch diese Voraussetzung mitbringt, ist fraglich. Evidenzbasierte Studien und ein wissenschaftlicher Diskurs dazu sind nicht feststellbar (vergleiche Seite 55).

Wahrnehmungen der Bewohnervertretung

Die Bewohnervertretung überprüft Freiheitsbeschränkungen in Einrichtungen, in denen u.a. nach der Muchitsch-Methode gearbeitet wird. In zumindest zwei Einrichtungen mit sozialpsychiatrischer Intensivbetreuung für jeweils drei Personen bestehen erhebliche Bedenken, was die Häufigkeit und Intensität von Freiheitsbeschränkungen betrifft.

Vor dem Hintergrund der sehr günstigen strukturellen und personellen Voraussetzungen ist das verwunderlich, da man eigentlich annehmen müsste, dass unter diesen Umständen kaum Freiheitsbeschränkungen vorgenommen werden müssten.

Die Realität sieht so aus, dass körperliche Zugriffe, Fixierungen am Boden, versperrte Zimmer, Handfixierung mit Gurten und der Einsatz sedierender Psychopharmaka sowie die Androhung dieser Maßnahmen in einem weit überdurchschnittlichen Maß vorgenommen werden.

Von der Einrichtung wird diese Vorgehensweise mit der angeblich „besonders problematischen“ Klientel begründet, bei der soziale Desintegration, erhöhte Gewaltbereitschaft, Veränderungsresistenz und ausufernde Störungsdynamik bestehe.

Das untermauert wiederum das Narrativ von hochgefährlichen autistischen Menschen, die „überall rausfallen“ und nur in isolierten Spezialeinrichtungen betreut bzw. behandelt werden könnten. Diese Darstellung ist aus menschenrechtlicher Sicht nicht nur vereinfachend, sondern auch inklusionsverhindernd und diskriminierend.

Damit einher geht die vom Träger der Einrichtungen vertretene Grundhaltung, es sei in der Praxis bei dieser „besonderen“ Klientel de facto unmöglich, den Anforderungen des Heimaufenthaltsgesetzes zu entsprechen.

Das stellt jedoch eine eklatante Fehlbeurteilung der Grundrechte von Menschen mit Behinderungen dar. Gerade für Menschen, die aufgrund ihrer Behinderungen einer institutionalisierten Pflege und Betreuung zugeführt werden, wurde der Grundrechtschutz auf persönliche Freiheit durch das Heimaufenthaltsgesetz etabliert.

Dieses durch die Verfassung gewährleistete Grundrecht ist sehr weit auszulegen. Das bestätigt auch die oberstgerichtliche Rechtsprechung.

Recht auf selbstbestimmtes Leben

Kleine Wohnformen mit individuell angepasstem Unterstützungsbedarf sind eine positive Entwicklung im Vergleich zu großen Institutionen.

Doch auch hier ist zu berücksichtigen, dass Menschen mit Behinderungen in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) das Recht auf Selbstbestimmung, gleiche Wahlmöglichkeiten und Inklusion in der Gemeinschaft zugesichert wird. Organisationen, die Menschen mit Behinderungen begleiten, müssen versuchen, diesen Auftrag bestmöglich umzusetzen.

In jenen Einrichtungen mit intensivbetreutem Wohnbedarf wird für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen und mit frühkindlichen Entwicklungsstörungen Wohnversorgung, Betreuung und in Kombination mit der als „Therapie“ bezeichneten Methode von Muchitsch eine autismusspezifische Alltagsgestaltung angeboten.

Diese „Alltagsgestaltung“ in einer Wohn- und Betreuungseinrichtung greift noch viel weiter in die Autonomie und Selbstbestimmtheit von Menschen mit Behinderungen ein, als es z.B. in Einrichtungen mit angegliederter Tagesstätte passiert. Aus dem Blickwinkel der UN-BRK gelten bereits letztgenannte als überholt, da sie nicht dem in der Konvention verankerten Standard entsprechen.

Die angebotene „Alltagsgestaltung“ nach der Methode von Muchitsch sieht eine Durchstrukturierung des Alltags mit Aufgaben und Regeln vor, die individuelle Abweichungen, Freiheiten und Spontanität kaum zulassen bzw. mit Interventionen ahndet. Von den Befürwortern dieser Methode wird vorgebracht, dass insbesondere Menschen im Autismus-Spektrum diese „klaren Strukturen“ brauchen würden.

Dies mag durchaus sein. In der Praxis von Wohnversorgung, Betreuung und „Alltagsgestaltung“ ergibt sich jedoch das Bild einer totalen Institution mit weitgehender Vorschreibung der Alltaggestaltung, Kontrolle und Intervention sowie sozialer Isolierung auf das engste Umfeld.

Menschen mit Behinderungen einer solchen „Dauer-Therapie“ durch BetreuerInnen defacto zwangsweise zu unterziehen, ist nicht nur bedenklich und kritisch zu hinterfragen, sondern widerspricht nach Ansicht der Bewohnervertretung in Verbindung mit der Wohn- und Betreuungsleistung, ohne alternative Wahlmöglichkeit, der UN-BRK.

Dass diese Einrichtungen dennoch Erfolge für die BewohnerInnen verzeichnen können, mag an verschiedenen Faktoren festgemacht werden. Intensive, beziehungsvolle, individuelle Unterstützung kann als grundsätzlich förderlich angesehen werden.

Es ist vorstellbar, dass alleine verbesserte Wohnbedingungen durch die kleinstrukturierten Einrichtungen bzw. ein Durchbrechen der Hospitalisierung bereits einen Erfolg zeigen. Dies spricht für kleine Einrichtungen mit umfassenden Unterstützungsangeboten, nicht aber für isolierte und isolierende Spezialeinrichtungen, auch wenn sie klein sind.

Es gilt abzuwägen, wie weit bzw. intensiv in die Persönlichkeitsrechte von Menschen mit Unterstützungsbedarf eingegriffen werden muss, um eine förderliche Entwicklung zu ermöglichen. Förderung und Verwirklichung von Selbstbestimmung und Autonomie durch individualisierte Angebote ist immer der Vorzug zu geben gegenüber methodengeleiteter paternalistischer Fürsorge und Bevormundung.

Warum dieses Ziel gerade in solchen Einrichtungen nur über intensive Freiheitsbeschränkungen erreicht werden kann, bedürfte einer kritischen Reflexion der geübten Praxis. Eine grundsätzliche Methodenvielfalt und Offenheit wären hier jedoch Voraussetzung.

Dringend sollte die Durchführung einer wissenschaftlichen Begleitstudie sowie ein offen geführter wissenschaftlicher Diskurs forciert werden, anstatt eine einzige fachliche „Exklusivexpertise“ zwanghaft aufrecht zu erhalten.

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4 Kommentare

  • Vielen Dank für die offene Darstellung dieser Problematik! Erlebe leider immer wieder körperliche Übergriffe und „Psychoterror“, welche mit Bezug auf diese „Therapieform“ gerechtfertigt wird.

  • Solche Theorien sind sehr gescheit, aber die Praxis sieht noch einmal anders aus. Da gibt es Kinder, die einen Sonderpädagogischen Förderbedarf zugesprochen bekommen müßten, bekommen diesen nicht, und werden in einer integrativen Regelschulklasse gemeinsam mit den Kindern mit div. Lernbehinderungen (Down Syndrom..) unterrichtet. Die Arbeit in solchen Klassen gestaltet sich zuweilen schwierig. Was ich Prof. Feusers Büchern entnommen habe, stellt er hohe Ansprüche auf den für den Erfolg inklusiver/integrativer Schulklassen; Also: Wenige SchülerInnen, zwei Lehrkräfte, ein eigener Zivildiener zur Unterstützung eines Kindes, das sonst nicht mitmachen könnte bei der „Arbeit am Gemeinsamen Gegenstand.“ Prof. Feuser hat diesbezüglich erfolgreiche Projektstudien gemacht und publiziert. Er ist auch gegen jede „Besonderung“ von Menschen, die eine Behinderung haben. Schon die Etikettierung als Mensch mit autistischer Behinderung ist fatal, weil sie zu einem Auseinanderfall der Gruppe, der Klassengemeinschaft, führt. Jedes Kind soll alles lernen dürfen, – und das auf seine Weise.
    Nachmittagsbetreuung gibt es mW in zumindest einer Schule, welche die integrative Beschulung von Autisten betreibt. Was mir fehlt, – das war vor 20 Jahren, als ich persönlich in einer S-Schule gearbeitet habe und später auch in einer Freizeitgruppe von jungen autistischen Erwachsenen gemerkt habe, ist, dass zumindest zu dieser Zeit Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben nicht an Kinder vermittelt wurden, die nicht oder kaum sprechen konnten. Es galt der Grundsatz „zuerst sprechen, dann lesen und schreiben“ Ein 20jähriger hat mir beschämt gestanden, dass er das nicht kann. Ich finde, dass man sich mit dem Thema beschäftigen sollte. Ich habe die obige Info von Internet-Diskussionsforen betreffend Autismus. ma

  • Vor zwanzig Jahren habe ich in einer Schule für schwerstbehinderte Kinder (diverse Lernbehinderungen) gearbeitet und mich mit der Materie eingehender beschäftigt. TEACCH war für mich deshalb interessant, weil irgendwo (die Quelle kann ich jetzt adhoc nicht nennen) berichtet wurde, dass durch eine gezielte Frühförderung erreicht wurde, dass 90% dieser Kinder im Erwachsenenalter nicht in Heimeinrichtungen untergebracht werden mußten, sondern in eigenen Wohnungen leben konnten. Das im Gegensatz zur herrschenden Annahme, dass die Kinder mit ASS fast notwendigerweise ihr Leben lang in Heime bzw. betreute Einrichtungen gehen würden müssenDen Anfang nahm TEACCH in einer Elterninitiative in North Carolina; Eltern, die nicht zusehen wollten, dass ihren Kindern im öffentlichen Schulsystem nicht die notwendige Förderung zuteil wurde. In Kanada – glaube ich – hat sich ein ähnliches System entwickelt. Ich habe noch etwas an Literatur (Testanleitungen) bei mir zuhause und würde das jemanden, den /die es interessiert, zukommen lassen. Maulehla@gmx.at
    Zum schulischen System in Wien wäre zu bemerken, dass es hier Integrationsklassen gibt, in denen SchülerInnen mit Autismus im Rahmen der Regelklassen unterrichtet werden. Es bleibt dahingestellt, inwiefern dieses Modell erfolgreicher ist als die anderen Schuleinrichtungen für Kinder mit ASS, aber es gefällt mir – von der Konzeption her – sehr. Es geht zurück auf Prof. Dr. Georg Feuser.

    • Eine Diplomarbeit (von Rainer Grubich von 2008) hat den Erfolg der Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit autistischer Wahrnehmung in Wien ausgewertet und den Erfolg bestätigt. Es fehlt aber offensichtlich die ausreichende integrative Nachmittagsbetreuung. Die gesamte Diplomarbeit von Grubich ist auf bidok.at zu finden: http://bidok.uibk.ac.at/library/grubich-autismus-dipl.html
      Zitate daraus:
      „Die These, dass die Häufigkeit störender autismusspezifischer Verhaltensweisen abnimmt, kann nach Auswertung der Erhebung ebenfalls – zumindest mehrheitlich – bestätigt werden.“
      „…. kann die Grundhypothese, dass die SchülerInnen Lernzuwächse erzielen, …. aufrecht erhalten bleiben.“
      „So zeigt sich, dass in diesem Modell sowohl die kognitive, als auch die kommunikative und die sozial-emotionale Entwicklung von SchülerInnen mit autistischer Wahrnehmung gefördert werden. Um diesen Erfolg prolongieren zu können, bedarf es aber die erreichten Qualitätsmerkmale und Netzwerke abzusichern. Zurzeit ist z.B. die Finanzierung der Assistenzeinsätze durch die ‚Österreichische Autistenhilfe‘ nicht abgesichert. Auch das Angebot der integrativen Nachmittagsbetreuung für SchülerInnen mit autistischer Wahrnehmung im Speziellen, aber auch der anderen SchülerInnen mit SPF im Allgemeinen, ist als mangelhaft zu bezeichnen. Hier ist meines Erachtens die Kommunalpolitik aufgerufen, finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit die Stadt Wien mit Recht von sich behaupten kann, sich um alle ihre MitbürgerInnen zu kümmern. Es ist wie immer eine Frage der Gewichtung des Einsatzes der zur Verfügung stehenden Mittel: Leiste ich mir den Aufwand, den es bedarf, dass niemand aus unserer Gesellschaft herausfällt,…“