Susanne Göbel setzt sich seit vielen Jahren für die Selbstbestimmung, Selbstvertretung und die Rechte von Menschen mit Lernschwierigkeiten und mit hohem Unterstützungsbedarf ein.
Hierfür hat sie viele Schulungen in und außerhalb von Einrichtungen für behinderte Menschen und „Fachleute“ durchgeführt und Zukunftsplanungsprozesse angeschoben. In ihrem Kommentar für die kobinet-nachrichten macht sie deutlich, dass Menschenrechtsverletzungen beim Namen genannt und geahndet werden müssen.
Kommentar von Susanne Göbel
Der kobinet-Bericht „Menschenrechtsverletzungen in Behinderteneinrichtungen“ vom 9. September 2015 und auch der Bericht über den Vorschlag für eine Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ zur Anerkennung des Unrechts, das Heimkinder in der Bundesrepublik und der DDR in Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien erleiden mussten, haben mich aufgerüttelt: es geht um Menschenrechtsverletzungen, die unter dem Deckmantel von Pädagogik geschehen und von vermeintlichen Fachleuten ausgeführt werden.
Es ist an der Zeit, dass es auch in Deutschland eine zentrale, unabhängige und wirksame Beschwerdestelle für Menschenrechtsverletzungen geben muss. Ein Blick über den Tellerrand nach Österreich sollte uns ein Vorbild sein: die Volksanwaltschaft mit ihrem Modell einer präventiven Menschenrechtskontrolle, zum Beispiel in Einrichtungen der Behindertenhilfe, Altenhilfe, psychiatrischen Krankenhäusern, Justizanstalten oder anderen Krisenzentren ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine solche Beschwerdestelle funktionieren kann. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass das bei uns bisher existierende System der Heimaufsicht einfach nicht ausreicht, vor allem dann, wenn die Kontrollbesuche oftmals angekündigt oder in viel zu großen Abständen geschehen.
An den Eingängen zu Einrichtungen werden oft Qualitätssiegel oder Urkunden über die Einhaltung bestimmter Normen präsentiert. Diese sagen aber nicht wirklich etwas über die wahre Qualität der Einrichtungen aus, vor allem auf der Grundlage der Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte. Der Bund der Steuerzahler Deutschlands veröffentlicht in seinem Schwarzbuch jährlich Informationen zu öffentlichen Steuergeldverschwendungen. Ein Schwarzbuch der alltäglichen Menschenrechtsverletzungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Altenhilfe wäre sicherlich ähnlich prall gefüllt mit Beispielen.
Die Einhaltung der Menschenrechte geht uns alle an: das zeigt sich derzeit besonders beim Thema Flüchtlinge, denn sehr oft fliehen sie vor Kriegen und Menschenrechtsverletzungen in ihren Ländern. Wir lesen morgens in der Zeitung davon oder verfolgen aus der Sicherheit unserer Wohnungen abends die Bilder im Fernsehen – und wir sind betroffen. Klar ist: wer in Not ist, muss geschützt werden, und bei uns eine neue Heimat finden können. Wer im 2. Weltkrieg aus Deutschland fliehen konnte, war froh, vorübergehend oder dauerhaft in einem anderen Land eine sichere Heimat zu finden. Und Deutschland hat es in den ersten, schweren Jahren nach dem 2. Weltkrieg geschafft, etwa 12 Millionen Flüchtlingen hier wieder eine neue Heimat zu geben.
Aber gerade weil wir in Deutschland auch mit der Geschichte leben, dass zwischen 1939 und 1945 im Rahmen des sogenannten „Euthanasie-Programms“ mindestens 300.000 Kinder, Frauen und Männer mit Behinderungen und psychischen Krankheiten ermordet wurden, haben wir auch eine besondere Verantwortung, wenn es um behinderte und psychisch kranke Menschen geht. Wir sollten nicht vergessen, dass auch vor unseren Haustüren und in unseren Nachbarschaften die Menschenrechte zum Beispiel behinderter oder alter Menschen, die in Einrichtungen oder Sonderwelten leben (müssen), im Namen unterschiedlichster pädagogischer Konzepte, Erziehungsmaßnahmen oder aufgrund überkommener Strukturen immer wieder und weiter missachtet werden.
Scheinbar gut formulierte Leitbilder, in denen die Worte Selbstbestimmung, Inklusion und UN-Behindertenrechtskonventionen vorkommen, bewirken keine Veränderung, solange sich aussondernde Strukturen nicht ändern, ein wirklicher Wandel in der Praxis stattfindet und Menschenrechtsverletzungen klare Konsequenzen nach sich ziehen.
Am 1. März 2000 wurde in Oregon in den USA eine sehr große, staatliche Komplex-Einrichtung für behinderte Menschen, das Fairview Hospital and Training Center, geschlossen, nachdem Menschenrechtsverletzungen bekannt und angezeigt wurden. Jahrelange Apelle sowie wohlmeinende Versprechungen der Einrichtung, sich zu ändern und die Rechte der dort lebenden Menschen in Zukunft beachten zu wollen, hatten nie wirklich zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. Dafür brauchte es politische Signale und schlussendlich einen Parlamentsbeschluss, die Einrichtung zu schließen. Und es brauchte Ehrlichkeit: 2002 entschuldigte sich der damalige Gouverneur Oregons, John Kitzhaber, für die im Namen des Staates Oregon und durch seine Angestellten verübten Menschenrechtsverletzungen.
Wir sind alle gefragt, auch und gerade wenn wir Menschenrechtsverletzungen in Einrichtungen miterleben, ihnen Einhalt zu gebieten und sie öffentlich zu machen. Wenn ich ehrlich bin, habe auch ich in meinen inzwischen fast 30 Arbeitsjahren in und für die Behindertenhilfe oft genug kleine und große Menschenrechtsverletzungen miterlebt und wahrgenommen – und nicht viel dagegen getan. Das macht mich betroffen, wütend und sehr nachdenklich.
Ich will und kann nicht weiter schweigen, denn es geht hier um konkrete Menschen, denen die Menschenrechte nicht vorenthalten werden dürfen. Und auch ich könnte sehr schnell einmal in die Situation kommen, dass ich darauf angewiesen bin, dass sich jemand für meine Rechte einsetzt – und dann will ich sicher sein, dass auch jemand seine oder ihre Stimme für mich erhebt und nicht nur betroffen zuschaut.