Deutschland legt sich quer

Bund und Länder widersprechen der Auslegung von inklusiver Bildung durch den UN-Fachausschuss

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Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) hat unter der Bezeichnung „Draft General Comment on Article 24“ einen Kommentar zu Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention im Entwurf vorgelegt und die Diskussion darüber eröffnet.

Der Kommentar will das menschenrechtsbasierte Verständnis von „inclusive education“ rechtlich normieren.

Am 15.1.2016 ist dazu die gemeinsame Stellungnahme von Bund und Ländern unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und Mitwirkung der Kultusministerkonferenz (KMK) an das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte in Genf abgegeben worden. Darin wird deutlich, dass Deutschland nicht bereit ist, der normativen Auslegung des Fachausschusses zu folgen.

Inklusion ist unvereinbar mit Segregation

„The goal is for all students to learn in inclusive environments“, heißt es in dem auf Englisch abgefassten Kommentar. Der Fachausschuss unterstreicht damit, dass inklusive Bildung als Menschenrecht für Menschen mit Behinderungen weder behinderungsspezifisch noch behinderungsgebunden ist.

Inklusive Bildung zielt darauf, dass alle Menschen in inklusiven Lernumgebungen lernen, denn sie ist der Schlüssel zu hochwertiger Bildung für alle. Sie ist unverzichtbar für die Verwirklichung der anderen Menschenrechte und für die Entwicklung inklusiver Gesellschaften.

Die Verwirklichung von inklusiver Bildung verlangt einen umfassenden Veränderungsprozess aller Lernorte im Bildungssystem, „a process that transforms the culture, policy and practice in all educational environments to accomodate the differing needs of individual students …“

Der Kommentar grenzt Inklusion von Integration und Segregation scharf ab. Die Inklusion wird getragen von der Vision, dass alle Lernenden einer Altersgruppe dazugehören. Deshalb müssen Inhalte, Methoden, Strukturen und Strategien des Lernens sich an die Bedürfnisse der einzelnen anpassen. Sie ist gerichtet auf die Entfaltung des menschlichen Potenzials, der Würde, des Selbstwertgefühls und der Anerkennung von Unterschiedlichkeit in sicheren, lernfreundlichen und lernförderlichen Umgebungen.

In der Segregation werden hingegen die Lernenden mit Behinderungen in behinderungsspezifisch ausgelesenen Gruppen isoliert und erhalten keine hochwertige Bildung. Die Integration nimmt Menschen mit Behinderungen in das Regelsystem zwar auf, aber erzwingt ihre Anpassung an das System. Auch hier gibt es Formen von Segregation, wenn Lernende mit Behinderungen innerhalb der Regelschule als Gruppe isoliert werden.

Bund und Länder verteidigen das segregierte Sonderschulsystem

In ihrer Stellungnahme wenden sich Bund und Länder entschieden dagegen, den negativ konnotierten Begriff Segregation auf das deutsche Sonderschulsystem anzuwenden. Das deutsche Bildungssystem sei auf dem natürlichen Recht der Eltern aufgebaut, über Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu entscheiden. Das sei grundgesetzlich verbrieft.

Mit dem Recht der Eltern, zwischen Sonderschule und allgemeiner Schule zu entscheiden, würden die Prinzipien der Verfassung erfüllt. Von Segregation könne nur dann gesprochen werden, wenn gegen den Willen von Eltern die Separierung erfolge. Es wird vorgeschlagen, diesen Zusatz in die Definition von Segregation aufzunehmen.

Ebenso entschieden weisen Bund und Länder die Wertung des Fachausschusses als unzutreffend zurück, die Bildungsangebote in deutschen Sonderschulen seien von geringer Qualität. Mit Bezug auf die gute Ausbildung von Sonderpädagogen heißt es dazu: „Germany points out that the notion that students receive education of an inferior quality at special schools is not valid for Germany. At these schools students are taught by teachers with extraordinarily well-grounded academic training which takes several years to compete.“

Bund und Länder stellen sich geschichtsblind

Völlig abgekoppelt von der Geschichte der Sonderpädagogik in Deutschland erzeugt die deutsche Stellungnahme den Eindruck, als sei das deutsche Sonderschulsystem auf dem Elternwillen aufgebaut. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Die Geschichte der Sonderpädagogik ist gekennzeichnet von dem Bemühen, Kinder in Armutslagen mit herkunftsbedingten Lern- und Entwicklungsproblemen aus der allgemeinen Schule auszusondern und zum Objekt einer Zwangsauslese zu machen.

Die erstmals im Nationalsozialismus gesetzlich verankerte Praxis, unabhängig vom Willen der Eltern bei Kindern mit Schulleistungsschwächen eine Zwangsüberweisung zur Hilfsschule, dem Vorläufer der Sonderschule, vorzunehmen, wurde auch nach 1945 bis in unsere Zeit fortgesetzt.

Es war und ist das Verdienst der Elternbewegung für das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen, dass es in den 1980er Jahren erstmals Schulversuche zum gemeinsamen Unterricht gab und in der Folge auch eine Ausweitung der Integration, allerdings in bescheidenem Umfang und ohne gesetzlich verbrieftes Elternwahlrecht. Der Elternwille wurde von der KMK erst „erfunden“, als die UN-BRK auf den Plan kam und als Bedrohung für das deutsche Sonderschulsystem wahrgenommen wurde.

Bund und Länder sind lernresistent

Internationale und nationale Studien in der Vergangenheit konnten belegen, dass durch Sonderbeschulung weder gute Lernergebnisse noch bessere Möglichkeiten für die gesellschaftliche Integration erzielt werden.

Die Ergebnisse aus der aktuellen Studie des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) „Wo lernen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besser?“, ein Vergleich schulischer Kompetenzen zwischen Regel- und Förderschulen in der Primarstufe, bestätigt diese Tendenz. Sie wurde pikanterweise im Auftrag der KMK und des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (BMWF) erstellt. Auch statistisch ist die erschreckende Bildungs- und Zertifikatsarmut von Absolventinnen und Absolventen der Sonderschulen erfasst.

Bildungsforscher sind sich darin einig, dass die Hauptursache für die schlechten Lernergebnisse in der kognitiven und sozialen Anregungsarmut behinderungsspezifisch ausgelesener Lerngruppen zu sehen ist, die einen dreifachen Reduktionismus in didaktischer, methodischer und sozialer Hinsicht befördert. Der Anregungsreichtum, der von einer heterogenen Gruppe ausgeht, kann auch nicht durch die Verkleinerung der Lerngruppe und durch spezialisierte Lehrkräfte kompensiert werden.

Deshalb muss die Behauptung von Bund und Ländern, dass die Bildung im Sonderschulsystem wegen der gut ausgebildeten Sonderpädagogen hochwertig sei, als reine Schutzbehauptung scharf zurückgewiesen werden.

Bund und Länder verschweigen die sonderpädagogische Fehlentwicklung

Die Aussage „Over the past few years, the share of children with special educational needs attending regular schools has risen coninuously!“ will glauben machen, dass der Inklusionsprozess in Deutschland erfolgreich verläuft. Dies ist aber keineswegs der Fall. Zwar ist die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Regelschulen gestiegen, aber die Zahl der Kinder, die in den Sonderschulen separiert werden, ist konstant geblieben.

Die Fehlentwicklung geht nach Untersuchungen von Prof. Wocken auf die sonderpädagogische „Etikettierungsschwemme“ zurück. Darin drückt sich nach Wocken die im Zuge der Inklusion ausufernde Bereitschaft und Praxis der Sonderpädagogik aus, für die allgemeinen Schulen sonderpädagogische Ressourcen zu beschaffen, indem sie nichtbehinderte Problemschülerinnen und -schüler in den allgemeinen Schulen als sonderpädagogisch förderungsbedürftig diagnostiziert und etikettiert.

Mehr Sonderpädagogik und sonderpädagogische Diagnostik in den allgemeinen Schulen machen diese aber noch nicht inklusiv, sondern nur die vom UN-Fachausschuss geforderte paradigmatische Veränderung der allgemeinen Schule und der allgemeinen Pädagogik. Dazu gibt es bezeichnenderweise keinen einzigen konkreten Hinweis in der deutschen Stellungnahme.

Nach der Staatenprüfung Deutschlands im Frühjahr 2015 gab es ein auffälliges Schweigen von Bund und Ländern zu der Kritik des UN-Fachausschusses an dem segregierten deutschen Bildungssystem.

Jetzt haben wir es schriftlich: Bund und Länder verweigern sich gemeinsam den menschenrechtlichen Zielen von Artikel 24. Die Diskussion über den Kommentar des UN-Fachausschusses und über die deutsche Stellungnahme dazu ist eröffnet.

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