Deutschland: Schadenersatz für ehemaligen Förderschüler

Das Landgericht Köln hat am 17. Juli 2018 im Verfahren Nenad M. gegen das Land Nordrhein-Westfalen ein Teil-Urteil verkündet.

Richterhammer und deutsche Flagge
BilderBox.com

Das Gericht bestätigte nach Informationen des Kölner Vereins mittdendrin, dass das Land Nordrhein-Westfalen Nenad M. Schadenersatz zahlen muss (siehe Hintergrund). Es geht davon aus, dass er beim Besuch einer allgemeinen Schule mit 16 Jahren einen Schulabschluss abgelegt hätte.

Dies sei ihm durch die dramatisch unterfordernde Beschulung an einer Sonderschule für Schüler mit geistiger Behinderung verwehrt worden, mit entsprechenden Folgen für seine berufliche Perspektive.

Die Höhe des Schadenersatzes will das Landgericht erst ermitteln, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Dies wäre der Fall, wenn das Land Nordrhein-Westfalen auf die Berufung verzichtete oder wenn das zuständige Oberlandesgericht das Urteil bestätigte, heißt es in der Presseinformation von mittendrin e.V. Nenad M. hatte insgesamt fast 11 Jahre auf Sonderschulen verbracht, davon sechs Jahre auf der Kölner Förderschule Auf dem Sandberg.

Erst kurz vor seinem 18. Geburtstag gelang ihm, mit Hilfe des Rom e.V. und des mittendrin e.V., der Wechsel an ein Berufskolleg, an dem er mit Bestnoten seinen Hauptschulabschluss nachholte. Im Jahr 2016 erhob er Schadenersatz-Klage gegen das Land Nordrhein-Westfalen.

Der Kölner Elternverein mittendrin e.V., der Nenad M. bei der Klage unterstützt hat, begrüßt das Urteil. „Nenads Geschichte ist kein Einzelfall“, sagt die mittendrin-Vorsitzende Eva-Maria Thoms, „wir kennen andere Förderschüler, denen es ähnlich ergangen ist. Deshalb fordern wir Schulministerin Yvonne Gebauer auf, die Förderschulen auf weitere Fälle zu überprüfen. Gerade nach diesem Urteil ist es nicht zu verantworten, dass andere betroffene Schüler sich selbst überlassen bleiben. Die Ministerin hat hier eine Sorgfaltspflicht.“

Im Fall von Nenad M. hatten die Förderschullehrer den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung einfach jedes Jahr fortgeschrieben, obwohl längst offensichtlich war, dass bei dem Schüler keine geistige Behinderung vorlag.

Der Fall Nenad M. stellt nach Ansicht des Vereins mittendrin jetzt die gesamte sonderpädagogische Diagnostik auf den Prüfstand. Denn offenbar sei nicht gewährleistet, dass Fehl-Gutachten erkannt und fehlerhafte Einstufungen von Kindern und Jugendlichen korrigiert werden.

In der Folge würden junge Menschen ihrer Bildungs- und Berufschancen beraubt. Ebenso werfe der Fall Nenad M. die Frage auf, ob die Sonderschulen ihrem guten Ruf tatsächlich gerecht werden. Die oft behauptete exzellente individuelle Förderung jedes Schülers würde einen Fall wie den des Nenad M. verhindern, argumentiert mittendrin e.V.

Link zu einem WDR-Bericht zum Urteil

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Die Kommentarfunktion für diesen Artikel ist abgeschalten.

Ein Kommentar

  • Das Nenads Geschichte kein Einzelfall ist, davon bin ich überzeugt. Ich kenne jemanden der wurde in den 60iger und 70iger Jahren aufgrund einer Behinderung (Hemiparese) in die Sonderschule geschickt. Damals stellte auch niemand die Diagnosen in Frage. Warum sollte das heute anders sein? Die Mehrheit der Sonderschüler war auf Grund sozialer Benachteiligungen in den Sonderschulen. Die Interessen, Begründungen und Argumente der Erhalter/Befürworter dieses aussondernden Schulsystems waren die gleichen wie heute. Meine Bekannte hätte nach der ersten Klasse der Allg. Sonderschule auf Empfehlung ihrer Lehrer, wieder in die Volksschule rückgeschult werden können. Der Schulpsychologe ein Psychiater riet den Eltern aber davon ab. Die Bewertungskriterien waren damals neben einem Intelligenz- und Zeichentest auch die motorischen Fähigkeiten die sich an nichtbehinderten Kindern gleichen Alters orientierten. Gab es Abweichungen zu den gesunden Kindern, wurde auch das als zusätzliches Indiz einer Intelligenzminderung bewertet. Meine Bekannte hat eine Halbseitenlähmung. Der Begutachter war derselbe, der sie ein Jahr zuvor in die Sonderschule überstellt hatte. Er hätte sein eigenes Gutachten vom Vorjahr revidieren müssen. Dieses „Gutachten“ und die erhöhte Kinderbeihilfe, die damals in Österreich an das Schulversagen (Sonderschulbesuch oder mehrfaches Sitzenbleiben) der Kinder mit Behinderungen gekoppelt war, erleichterte den Eltern ihre Entscheidung. Die Eltern haben den für sich selbst einfacheren Weg gewählt. Man hat meine Bekannte im wahrsten Sinne des Wortes für dumm verkauft!
    Mit 16/17 stellte man bei ihr einen IQ von 130 fest (der wurde bei einer weiteren Testung zu einem späteren Zeitpunkt, sogar noch übertroffen). Sie hat im Laufe ihres Lebens zwei Berufe erlernt, und diese auch ausgeübt. Die erste Berufsausbildung im Kaufmännischen Bereich, musste sie sich selbst ohne Zutun der Eltern erkämpfen. Die einzige Alternative für körperbehinderte Jugendliche die nicht als Hilfsarbeiter arbeiten konnten, war eine Beschäftigung in einer bevormundenden Behindertenwerkstatt. Alle Sonderschüler befanden sich nach der Schule im freien Fall, die meisten noch zu jung um als Hilfsarbeiter irgendwo angestellt zu werden und zu „dumm“ für eine Lehre. Nachdem sie im Alter von 20 Jahren (1982) ihre Lehrabschlussprüfung erfolgreich abgeschlossen hatte, sagte man ihr am Arbeitsamt (AMS) Wien sie brächte erst gar nicht mehr zu kommen, denn für sie hätten sie keine Arbeitsangebote. Sie hat auch kein einziges Stellenangebot von diesem Amt bekommen. Die Stigmatisierung „ehemalige Sonderschülerin“ wirkte weiter. Sie war gerade erst 20 Jahre alt und hatte trotz angeknacksten Selbstwertgefühl und ihrer Beeinträchtigungen ihre Ausbildung geschafft!
    Auf Eigeninitiative gelang es ihr dann ein Jahr später, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Was sie bis dahin an Herabwürdigung ihrer Person mitmachen musste ist unbeschreiblich!
    Potenzielle Arbeitgeber fragen nicht ob diese Beschulung in einer Sonderschule „gerechtfertigt war oder nicht“ generell wurde/wird nicht daran gezweifelt. Die Stigmatisierung bleibt, trotz einer erfolgreichen Berufsausbildung bis der/ die Betroffene das Gegenteil beweisen kann. Vorausgesetzt ein potenzieller Arbeitgeber gibt diesen Menschen überhaupt die Chance dazu.
    Bis heute scheint es in der allgemeinen Gesellschaft kaum ein Thema zu sein, das es auch unter behinderten Kindern, Kinder mit „normalen“ Begabungen gibt und geben kann!
    Nenad (er ist zwar aus sozialen Gründen benachteiligt worden), aber sein Fall gibt vielleicht auch Anlass zur Hoffnung für alle Kinder, dieses systematische Aussonderungssystem Sonderschule/Förderschule egal wie die Bezeichnung ist, wieder verstärkt unter die Lupe zu nehmen. Gerade in Österreich wäre das gut, weil die amtierende Regierung die Sonderschulen (nicht die Kinder) wieder stärken will.
    Die Pisa- Ergebnissen beweisen ja, wie erfolgreich das Deutsche und Österreichische Schulwesen ist. Pisa – Weltmeister werden sie sicher nie!
    Nenad wünsche ich viel Kraft, er wird sie benötigen. Denn die jahrelange Etikettierung und Stigmatisierung als geistig beeinträchtigt zu gelten, lässt sich nicht mehr so einfach ausradieren. Vielen ehemaligen Sonderschülern geht es so, die seelischen Verletzungen können heilen aber ein fortlaufendes Unrecht verheilt nie.