Deutschland: Schadenersatz für Sonderschüler

Erstmals muss ein deutsches Bundesland einem ehemaligen Sonderschüler Schadenersatz und gegebenenfalls Schmerzensgeld zahlen.

Richterhammer und deutsche Flagge
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Das entsprechende Grundurteil hatte der Kläger Nenad M. schon am 18. Juli 2018 vor dem Landgericht Köln erstritten (AZ 5 O 182/16). Die Kammer hatte in ihrem Urteil festgestellt, dass die Sonderschullehrer mit der jahrelang immer wieder erneuerten falschen Einstufung des Schülers in den Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ und mit dem Festhalten des Jungen auf der Sonderschule „Geistige Entwicklung“ erheblich gegen ihre Amtspflichten verstoßen haben.

Am 23. August 2018 verlautete aus der zuständigen Bezirksregierung Köln, dass das Land Nordrhein-Westfalen auf eine Berufung gegen das Urteil vor dem Oberlandesgericht verzichtet und damit die Zahlung von Schadenersatz und ggf Schmerzensgeld akzeptiert. Der Elternverein mittendrin fordert nun die Sonderschulen auf, endlich ähnliche Fälle zu überprüfen.

Die Anwältin des Klägers, Anneliese Quack, reagierte überrascht und erfreut: „Offenbar hat das Land angesichts des sehr klaren Urteils des Landgerichts Köln davon abgesehen, den Kläger in die nächste Instanz zu zerren“.

Die Anwältin hält das nun rechtskräftige Urteil für wegweisend: „Damit steht eindeutig fest, dass eine falsche Einstufung von Kindern und Jugendlichen in sonderpädagogische Förderschwerpunkte und eine entsprechend falsche Beschulung eine Amtspflichtverletzung darstellt und damit schadenersatzpflichtig ist. Die Förderschullehrer können nicht mehr machen was sie wollen“.

In Quacks Kanzlei sind bereits Anfragen weiterer Betroffener eingegangen, die sich von Sonderpädagogen falsch eingestuft sehen. Das hat vor allem dramatische Folgen für die Lernchancen der Kinder und Jugendlichen, wenn sie in einen niedrigeren Bildungsgang „Lernen“ oder „Geistige Entwicklung“ zugeordnet werden. Es bedeutet unausweichlich eine erhebliche Reduzierung des Lernstoffs und der Möglichkeiten, Schulabschlüsse zu erwerben.

Sonderschulen auf ähnliche Fälle überprüfen

Der Elternverein mittendrin e.V., der Nenad M. aus der Sonderschule herausgeholfen und ihn bei der Klage unterstützt hat, fordert Schulministerin Yvonne Gebauer erneut auf, aus dem Fall endlich Konsequenzen zu ziehen.

Wie die Anwältin hat auch der Elternverein aus Anfragen Betroffener und aus Beobachtungen deutliche Anhaltspunkte dafür, dass Nenad M. kein Einzelfall ist und an den Sonderschulen einer unbekannten Zahl weiterer Jugendlicher Bildungsmöglichkeiten vorenthalten werden. Dies betreffe zum Beispiel Kinder aus schwierigen Verhältnissen, aus Zuwandererfamilien und geflüchtete Jugendliche.

Die Lehrer an Nenads Kölner Sonderschule hatten die Kriterien des NRW-Schulrechts für einen Besuch ihrer Schule offenbar aus den Augen verloren und statt dessen aus persönlichem Ermessen entschieden, dass der Junge an der Geistigbehindertenschule „besser aufgehoben“ sei. Diese Redewendung begegne dem Verein in seiner Elternberatung sehr oft.

„Es muss eine unabhängige Kommission eingesetzt werden, die vor Ort in den Sonderschulen überprüft, ob die Schülerinnen und Schüler dort überhaupt unterrichtet werden dürfen“, fordert die mittendrin-Vorsitzende Eva-Maria Thoms. Es sei Verantwortung der Schulministerin, dass betroffene Kinder und Jugendliche in vergleichbaren Situationen jetzt nicht mehr allein gelassen werden.

Das Verfahren Nenad M. gegen das Land NRW ist mit der Rechtskraft des Grundurteils noch nicht beendet. Die Höhe des zu zahlenden Schadenersatzes muss noch geklärt werden.

Nenad M. hatte insgesamt fast 11 Jahre auf Sonderschulen verbracht, davon 6 Jahre auf der Kölner Förderschule Auf dem Sandberg. Erst kurz vor seinem 18. Geburtstag gelang ihm mit Hilfe des Rom e.V. und des mittendrin e.V. der Wechsel an ein Berufskolleg, an dem er mit Bestnoten seinen Hauptschulabschluss nachholte. Im Jahr 2016 erhob er Schadenersatz-Klage gegen das Land NRW.

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3 Kommentare

  • Sonderschule soll die absolute Ausnahme sein, aber die Praxis zeigt, dass die Zuweisung eines Sonderpädagogischen Förderbedarf bzw. Sonderschule zu unbegründet und zu vorschnell getroffen werden.

    Das kann sehr viele Gründe haben z. B. Übermäßige Führsorge oder manchmal sogar Willkür, sowie regional begrenzte Verfügbarkeit von alternativen Fördermaßnahmen wie zb. Für Schüler mit Migrationshintergrund einen Deusch Sparachkurs, für Schüler mit Lernschwäche, welche manchmal etwas länger brauchen wäre sehr wichtig Förderkurse sowie lerntherapeutische Maßnahmen, wo Schüler nochmal nachfragen können, was sie im Unterricht nicht verstanden haben.

    Nur wenn alle diese genanten Möglichkeiten ausgeschöpft sind und der Schüler stark darunter leidet, dann sollte die Zuweisung eines Sonderpädagogischen Förderbedarf bzw. Sonderschule in Erwägung gezogen werden.

    Ganz wichtig, nicht jede Behinderung soll einen Grund sein für die Zuweisung eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs.

  • Ich kenne in Österreich einige Menschen, von denen ich überzeugt bin, dass sie einen regulären Schulabschluss und eine reguläre Berufsqualifizierung geschafft hätten, wären sie nicht aufgrund einer Beeinträchtigung direkt in der Sonderschule gelandet. Mir ist nicht klar, wie ein mit dem Vorgehen in Deutschland vergleichbares Gerichtsverfahren in Österreich aussehen müsste, aber wichtig wäre es jedenfalls, um den Mythos von der guten Förderung behinderter Kinder in der Sonderschule endlich aufzubrechen.

  • Endlich wird dieses Menschenunrecht bzgl.einer falschen Intellektuellen Einstufung zur Sprache gebracht!
    Ich begleite meine behinderte Schwester, eine blitzgescheite Frau mit Down Syndrom schon lange durch ihr Leben und bin erschüttert, wie wenig Möglichkeiten ihr vom Staat Österreich gegeben wurden und noch werden, nach Erfüllung der Schulpflicht eine Aus- oder Weiterbildung machen zu dürfen.
    Das einzige, das ihr nach der Schule angeboten wurde, ist in einer Großeinrichtung wie Lebenshilfe oder JAW, wo alle sog. Behinderten über einen Kamm geschoren werden ihre Lebenszeit abzusitzen und ein bisschen basteln durfte.
    Alles, was sie dort gelernt hat, ist Luftmaschen häkeln.
    Das ist ihre Hauptbeschäftigung!
    Das andere, das sie nicht durch den Staat ermöglicht bekam, musste privat oder durch die Familie geleistet werden.
    Da kommt ein IHB Team, welches einen Bescheid über ihre Fähigkeiten ausstellen soll und bei Diagnose Down Syndrom wird automatisch kreativ produktiv hingeschrieben, was so viel bedeutet Wie intellektuell nicht beschulbar!
    Man spricht ihr jeden Geist und jede Eigenverantwortung ab, indem man sie nur manuell tätig werden lässt, obwohl sie intellektuell zu mehr fähig wäre als so manch andere Schulabgänger
    Ein einziger Skandal in einem Land, das ständig das Wort Chancengleichheit in den Mund nimmt!
    Was bis jetzt hier versäumt wurde, ist kaum mehr gut zu machen!
    Jetzt darf meine behinderte Schwester nicht einmal mehr in eine sog. Behindertenwerkstätte gehen und sitzt schon 4 Jahre ohne Beschäftigung und Arbeit zuhause.
    Die Politik in Österreich fühlt sich dafür nicht zuständig, denn das sind private Vereine, die, weil autonom, Narrenfreiheit genießen!
    Gäbe es die Schulpflicht nicht, hätte meine Schwester vielleicht auch nicht lesen und schreiben lernen dürfen!
    Ich bin einfach nur empört!!!