Deutschland: Theorie und Praxis – zwei Welten

Es war kein leichtes Unterfangen für alle Beteiligten bei der Anhörung Deutschlands vor dem UN-Fachausschuss zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Genf.

Flagge Deutschland
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Für die Behandlung der äußerst umfassenden Themen der deutschen Behindertenpolitik standen gerade einmal sechs Stunden Sitzungszeit zur Verfügung, die von Eingangsstatements, über das Einbringen und Beantworten von weit über 100 Fragen, bis zu den Schlussstatements reichten – Abstimmungspausen inbegriffen. Das ist nicht viel Zeit, aber die Zeit hat gereicht, einen Einblick über die verschiedenen Denk- und Herangehensweisen der unterschiedlichsten Akteure in Sachen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu bekommen.

Auf der einen Seite waren eine Reihe von äußerst engagierten Ausschussmitgliedern, die Deutschland mit vielen kritischen Fragen konfrontierten, die aufgrund der begrenzten Zeit aber nicht alle entsprechend beantwortet werden konnten. Vor allem die Kommentare bzw. begleitenden Erläuterungen der Ausschussmitglieder machten deutlich, dass das Denken des Ausschusses in Sachen Einhaltung der in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschriebenen Menschenrechte zum Teil meilenweit vom Denken der Bundesregierung entfernt ist.

Sie legten immer wieder den Finger in Wunden wie den Wahlrechtsausschluss, die Ausgrenzung, geringe Bezahlung und die geringen Vermittlungschancen in Werkstätten für behinderte Menschen, bis hin zur schulischen Inklusion und der weitverbreiteten Institutionalisierung im Bereich des Wohnens in Deutschland. Auch das Nachhaken, warum Deutschland die Barrierefreiheit nicht auch im privaten Bereich festschreibt bzw. das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerte Instrument der angemessenen Vorkehrungen nicht nutzt, brachte die Regierung ins Schwitzen, wie es die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales Gabriele Lösekrug-Möller am Ende der Anhörung offenherzig bekannte.

Auf der anderen Seite waren die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, die sehr zahlreich nach Genf gereist waren und sich dem Dialog offen stellten. Sechs Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention fühlte man förmlich wie die Bundesregierung in ihren Statements und Antworten immer wieder vage bleiben bzw. in die Zukunft blicken musste. Man fragte sich immer wieder, was wohl wäre, wenn die Anhörung vor eineinhalb Jahren noch zu Zeiten der schwarz-gelben Regierungszeit stattgefunden hätte.

Da gab es noch nicht einmal greifbare und konkrete Pläne für die Reform einer Reihe von Gesetzen und die Regierung wäre mit noch leereren Händen dagestanden. Klar, sie hat einen Aktionsplan mit 200 Maßnahmen entwickelt, in einigen Bereichen konnten kleinere und mittlere Verbesserungen nicht zuletzt mit Hilfe des Drucks aus den Verbänden erreicht werden, aber für sechs Jahre war die Bilanz schwach, wenn man sich die Mühe machte, von der Oberfläche in die Tiefe, also von der Theorie in die Lebenspraxis behinderter Menschen zu blicken. Zumal in Baden-Württemberg die Sonderschulpflicht erst noch abgeschafft werden soll und Sachsen immer noch nicht über einen Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention verfügt. 

Ohne die Ausflüge in die Zukunft und die vor kurzem angefangenen Prozesse für Gesetzesänderungen hätte Deutschland in vielen Bereichen mit leeren Händen dagestanden, doch diese Zukunft muss erst noch gestaltet werden. Und hier tun sich einige Zweifel auf, denn wie oft wurden behinderte Menschen in den letzten Jahren mit schönen Reden abgespeist. Bereits 1973 gab es beispielsweise einen Vorstoß der CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag, die Hilfen für behinderte Menschen aus dem Fürsorgesystem herauszulösen. Die fünf Milliarden, die im Koalitionsvertrag an Entlastung der hohen Kosten der Kommunen im Bereich der Eingliederungshilfe im Rahmen der Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes vorgesehen waren, sind schon für allgemeine Investitionen futsch, bevor sie richtig im Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales angekommen sind.

Bei der Frage der Anrechnung des Einkommens und Vermögens wird weiterhin davon gesprochen, „zu prüfen“, welche Verbesserung geschaffen werden kann. Von der Abschaffung dieser unsäglichen arm machenden und bürokratischen Regelungen ist noch gar nicht die Rede. Beim Bundesteilhabegeld wird auch nur „geprüft“ und sogar das Budget für Arbeit soll „geprüft“ werden. Als gäbe es dieses Budget nicht schon seit sieben Jahren in Rheinland-Pfalz, als bringe es nicht sogar Ersparnisse, wie Berechnungen zeigen.

Ähnlich wie beim 50. Jahrestag der Aktion Mensch, wo die Frage gestellt wurde: „was wäre, wenn die Aktion Mensch heute noch Aktion Sorgenkind heißen würde?“ So ähnlich könnte man nun fragen: „wie hätte die Bundesregierung bei der Anhörung in Genf abgeschnitten, hätte die Behindertenbewegung in den letzten Jahren nicht so viel Druck für die längst überfälligen gesetzlichen Veränderungen gemacht und damit die Verantwortlichen auf den Weg zu Reformen gezwungen?“ Der Dank der Bundesregierung an die Verbände und die Zivilgesellschaft für ihr großes Engagement passt hier also bestens.

Die Verweise auf die geplanten Gesetzesvorhaben haben durch die Verweise der Pläne der Bundesregierung auf die Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes, auf die Reform des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes und die Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention nun eine neue Dynamik und einen erheblichen Druck für gute Gesetzesreformen entwickelt. Daran werden wir also die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode messen.

Und dann waren da bei der Anhörung wieder die Untiefen der deutschen Behindertenpolitik und des Nichtverstehens der Menschenrechtsperspektive, die trotz der Anfänge einer neuen Beteiligungskultur in der Behindertenpolitik frei nach dem bereits Ende der 70er Jahre entstandenen Slogans „Nichts über uns ohne uns“, an alte Zeiten erinnern. Unsägliche Vergleiche und Rechtfertigungen, warum behinderte Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen werden sollen, vonseiten des Innenministeriums, wenig Einsicht, was unser System der Aussonderung ohne nennenswerte Alternativen zu Werkstätten für behinderte Menschen, Tagesförderstätten, Förderschulen und den massenhaften stark institutionell geprägten sogenannten Heimen mit den Menschen und unserer Gesellschaft als ganzen macht.

Peinliche Zahlen, die die Aussonderung in diesem Land bloßstellen und deutlich machen, wie stark die Lobby der Aussonderung ist, ergänzten das theoretische Bild kritischer Beobachter. Die damit verbundenen vielen Schicksale von behinderten und älteren Menschen, die ganz praktisch erleben müssen, was es heißt, in Sonderwelten leben zu müssen, die sich oft nicht trauen, Kritik zu äußern, weil sie Angst vor negativen Konsequenzen in ihrem höchst von den Einrichtungen und deren Beschäftigten abhängigen Leben haben, fanden leider keinen Platz in der Anhörung.

Erst diese Woche wurde beispielsweise auch deutlich, welchen Unterschied es zwischen Gewerkschaften und vielen Werkstatträten gibt. Gewerkschaften kritisieren ihre Arbeitgeber, nutzen die Öffentlichkeit und kämpfen offensiv für Lohnerhöhungen, Arbeitnehmerrechte und bessere Arbeitsbedingungen. Die Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte Nordrhein-Westfalen kritisiert das ZDF Fernsehmagazin WISO, weil es über Ungerechtigkeiten, Einschränkungen bei der Entlohnung und Ungereimtheiten bei der Lohnberechnung protestierte und rechtfertigt das bestehende System.

Und wo waren die Menschen, die beispielsweise auf Unterstützte Kommunikation angewiesen sind, die ihnen oft aber verwehrt oder ihnen sogar die Kommunikationsfähigkeit abgesprochen wird. Auch die Situation gehörloser Menschen, die im privaten Bereich kaum Unterstützung zur Kommunikation in Gebärdensprache erhalten ging dahingehend unter, dass betont wurde, dass sie bei Artzbesuchen ihre Dolmetscherkosten abrechnen können. Was es aber für Eltern bedeutet, die gehörlos sind und keine Kostenerstattung für Gebärdendolmetscher bei Arztbesuchen mit ihren Kindern bekommen, das blieb wie so viele andere Feinheiten in dieser Anhörung unter der Decke vergraben.

So ehrenwert die vielen Maßnahmen sind, die in den letzten Jahren in Sachen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zum Teil äußerst engagiert und mit viel Herzblut voran getrieben wurden. So wichtig die Aktionspläne sind, um gezielt die Situation zu verbessern. So hilfreich eine Reihe von Verbesserungen und gute Beispiele sind, die in den letzten Jahren geschaffen wurden, so viel gibt es noch zu tun. Vor allem sind es eine Reihe von Gesetzen und Regelungen, die immer noch den alten Geist der Exklusion ausatmen und den Automatismus in Sonderwelten bewirken, die endlich abgeschafft werden müssen.

Dass unser Denken hier zum Teil nur schwer hinterher kommt, ist zuweilen nachvollziehbar. Und genau deshalb war die Anhörung Deutschlands vor dem internationalen Gremium so wichtig, denn hier können wir viel vom Geist der Menschenrechte und den bereits erfolgreichen Ansätzen in anderen Ländern lernen. Deutschland ist hier trotz seiner wirtschaftlich führenden Rolle leider nur Mittelmaß.

Was nun ansteht, sind die abschließenden Bemerkungen (concluding observations) des UN-Fachausschusses, die für den 13. April 2015 erwartet werden und Deutschland Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Behindertenpolitik im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention an die Hand geben. Diese werden dann u.a. von der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung und dem Deutschen Institut für Menschenrechte in einer Tagung am 24. Juni diskutiert.

Und dann sind da die Versprechen der Bundesregierung, noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf für ein Bundesteilhabegesetz vorzulegen, das 2016 vom Bundestag und Bundesrat verabschiedet wird, das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz möglichst noch in diesem Jahr zu reformieren und den Nationalen Aktionsplan weiter zu entwickeln. Es bleibt also spannend in der bundesdeutschen Behindertenpolitik. Die Geschichte lehrt, dass diese Veränderungen nicht nur nicht über uns, ohne uns stattfinden dürfen, sondern dass wir uns dabei aktiv einmischen und massenhaft unsere Rechte einfordern müssen.

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